Buchempfehlung „Im Spiegelkabinett“: Was ist eigentlich Schönheit?

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Buchempfehlung „Im Spiegelkabinett“: Was ist eigentlich Schönheit?

Lippen wie Kylie!

Instagram-Star Kylie Jenner steht mit 24 Jahren an der Spitze eines globalen Imperiums – basierend auf einem: Die Leute wollen immer Fotos von ihr anschauen, weil sie sie schön finden. Ein fragiles Geschäftsmodell, könnte man sagen – aber Kylie Jenner sollte inzwischen finanziell abgesichert sein. Höhepunkt der Anbetung: Die #kyliejennerchallenge, bei dem Sie an einem Schnapsglas lutschen, bis Ihre Lippen voll und sinnlich geschwollen sind – genau wie die von Kylie. Enorm trendy!

Doch woher kommt dieser Drang, einem bestimmten Schönheitsideal so gut wie möglich entsprechen zu wollen? Eines ist sicher: Es steckt in uns allen! Und das schon viel länger als es Plattformen wie Instagram gibt. In dieser Graphic Novel nimmt uns Liv Strömquist mit auf einen äußerst unterhaltsamen Ritt durch die Kulturgeschichte der Schönheit.

Clevere Soziologen und Philosophen der Vergangenheit und Gegenwart wurden für dieses Buch als Zeichentrickfiguren (wieder) zum Leben erweckt. Und erklären mit einer Prise Humor, warum es unseren Schönheitsbegriff gibt, was er mit uns und unserem Gehirn macht – und was beispielsweise der Kapitalismus damit zu tun hat.

verborgene Substanz

Sie können dieses Buch leicht in weniger als drei Stunden lesen – einmal geöffnet ist es schwierig „Im Spiegelsaal“ wieder beiseite legen. Weil es einfach unglaublich unterhaltsam ist! Und das nicht, weil es leichte Kost wäre – ganz im Gegenteil: Liv Strömquist schafft es wie kaum eine andere, komplexe sozialwissenschaftliche Theorien so auf den Punkt zu bringen, dass sie garantiert jeder versteht. Außerdem ist dieses Buch sehr akribisch recherchiert. Ein Meisterwerk von verborgener Substanz!

Noch eine These: Wer dieses Buch durchblättert, wird sich ein Schmunzeln nicht verkneifen können, denn Illustrationen und Texte triefen vor Ironie und Witz – was angebracht erscheint, denn Schönheit an sich ist ein absurdes Thema: Sie bringt uns rein gar nichts – und erscheint aber so unglaublich wünschenswert. Und dann gibt es auch Beauty-Trends, die der Evolution im Wege stehen – Stichwort: Kylies Lippen.

Comics gegen das Patriarchat

Neben ihrer Karriere als Autorin ist Liv Strömquist auch Radiomoderatorin. Vielleicht ist ihr Humor deshalb so pointiert. In ihrer Heimat Schweden ist sie längst ein Star – und international ein Hit bei jungen Frauen, die sich mit feministischen Themen auseinandersetzen. Denn das schwingt in all ihren Comics mit: Es ist eindeutig die Perspektive einer Frau, die unsere Welt seziert und feststellt: Das Patriarchat hat sie verändert. Das heißt aber nicht, dass alles schlecht ist! Diese Einstellung hatten bereits ihre Vorgänger „Der Ursprung der Welt“, „Ich bin jede Frau“ und „Ich fühle es nicht“ zum Erfolg gebracht – und „Im Spiegelsaal“ kann sich auf alle Punkte beziehen.

Die Daten für das Buch
Liv Strömquist: Im Spiegelsaal. Avant-Verlag 2021, 168 Seiten, 20 Euro, ISBN: 978-3-96445-062-3

Menschliche Momente

Liv Strömquist analysiert den Umgang der Menschheit mit Schönheit – und sie beginnt ganz am Anfang – in Altes Testament. Die Forderung, dass Frauen schön sein müssen, um gut heiraten zu können, zieht sich mit einer gewissen Konsequenz durch die Menschheitsgeschichte. Aber: Der Druck, gut auszusehen, der auf uns allen lastet, war noch nie so groß wie heute. Das liegt auch daran, dass wir mit unseren Smartphones immer eine Kamera griffbereit haben – und im Zeitalter des Selfies auch nutzen.

Und tatsächlich sind viele Schönheitsideale äußerst kritikwürdig: Lippen wie Kylie braucht niemand, ein etwas weniger voluminöser Mund würde es auch tun – und trotzdem erwischen wir uns schon seit einer halben Stunde beim Surfen auf Kylie Jenners Instagram-Kanal? Liv Strömquist passt genau zu diesem menschlichen Moment – ​​und schafft einen inhaltlichen Spagat, denn eigentlich ist unser Streben nach Schönheit ein bisschen albern, unnötig und manchmal schmerzhaft, weil wir scheitern. Gleichzeitig fühlen wir uns von schönen Menschen angezogen und entwickeln das, was der Philosoph René Girard mimetische Begierde nennt: Wir lieben sie, aber wir hassen sie auch ein wenig, weil wir ihre Konkurrenz fürchten. Damit umzugehen – nicht einfach!

Was klebt?

Nachdem Sie dieses Buch gelesen haben, möchten Sie nur noch durchschnittlich aussehen und sich ein paar Tage Instagram nehmen. Denn obwohl „In the Hall of Mirrors“ sehr lustig, sehr ironisch, sehr augenzwinkernd ist, bleibt der Eindruck, dass wir uns in einer Art gesellschaftlichem Schönheits-Karussell befinden, das sich schwindelerregend schnell dreht – und immer wieder neue Anforderungen stellt auf unser Aussehen. Hilfe!

Der Rezensent
MDR WISSEN-Autorin Inka Zimmermann hat noch kein Selfie auf Instagram gepostet, sich aber anlässlich dieser Buchbesprechung an der #kyliejennerchallenge (siehe oben) versucht. Und am nächsten Tag hatte ich immer noch wunde Lippen. Autsch!
Eine alte Weisheit gilt daher auch in Zeiten von Social Media Beautys: Wer schön sein will, muss leiden. Also eher innere Werte! Wenn sie weiterhin Bücher für MDR WISSEN liest und rezensiert, sind zumindest in diesem Bereich Fortschritte zu erwarten.