Heidelberg (dpa) – Die Corona-Pandemie beeinträchtigt nicht nur die Akutversorgung von Krebspatienten, sondern hinterlässt Experten zufolge auch Defizite bei der Früherkennung und Nachsorge.
„In ein, zwei Jahren werden wir noch eine schwierige Situation erleben“, sagt Susanne Weg-Remers vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Sie verstehe die Zurückhaltung, nur präventiv in eine Praxis oder ein Krankenhaus zu gehen. „Aus Angst vor einer Ansteckung nutzen viele Menschen die Krebsfrüherkennung nicht.“ Mammografie und Darmspiegelung werden deutlich weniger eingesetzt als vor der Pandemie.
Der Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG), Thomas Seufferlein, gibt zögerliche Entwarnung: „Der Großteil der Corona-Infektionen passiert nicht in Kliniken und Praxen, sondern im privaten Bereich, weil dort eher auf Schutzmaßnahmen verzichtet wird. „
Früherkennung ist für viele kein Thema
Aus Sicht der beiden Experten hilft die Krebsfrüherkennung dabei, Tumore zu erkennen, wenn noch gute Heilungschancen bestehen. „Da sind schon Vorstufen zu erkennen“, erklärt Weg-Remers. Dies gilt insbesondere für Dickdarm- und Gebärmutterhalskrebs. Doch für manche Menschen sind diese Vorteile weniger wichtig als das Risiko einer Corona-Infektion. „Wir werden uns in den kommenden Jahren mit weiter fortgeschrittenen Krebserkrankungen befassen“, ist sich der Mediziner sicher.
Angebote zur Früherkennung nutzen viele Deutsche ohnehin nicht. Laut AOK wird ein relevanter Teil ihrer anspruchsberechtigten Versicherten durch die Krebsfrüherkennung über einen Zeitraum von zehn Jahren noch nicht oder nur begrenzt erreicht. Und während der Pandemie kam es laut Krankenkasse zu Einbrüchen bei der Krebsfrüherkennung, die gesundheitliche Folgen befürchten ließen. Besonders starke Rückgänge von knapp 20 Prozent wurden 2020 in der Hautkrebsfrüherkennung verzeichnet, mit einem weiteren Abwärtstrend zu Beginn des Jahres 2021. Rückgänge der Teilnahmequoten im Vergleich zu 2019 von jeweils 8,1 Prozent wurden beim Mammographie-Screening und der Prostatakrebs-Früherkennung festgestellt . Bei der Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs waren es minus 5,5 Prozent.
Mehr Spätdiagnosen
Die Barmer bestätigt einen ähnlichen Trend: Laut Krankenkasse sind chirurgische Eingriffe bei Krebs im Jahr 2020 um 26,3 Prozent zurückgegangen. Strahlentherapien verzeichneten ein Minus von 28 Prozent. Auch 2021 sei das Niveau vor Corona nicht wieder erreicht worden, sagt Ursula Marschall, Oberärztin der Barmer. Hinsichtlich der Früherkennung geht sie davon aus, dass 71.000 Menschen in Deutschland keine oder eine späte Krebsdiagnose erhalten haben, darunter 11.000 Brustkrebspatientinnen und 9.000 Melanompatientinnen. „Wir gehen davon aus, dass dies zu einem deutlichen Anstieg der Krebssterblichkeit führen wird“, fasst Marschall zusammen.
In einer von der AOK in Auftrag gegebenen Forsa-Umfrage im Mai 2021 gab jeder Fünfte an, wegen Corona nicht zu einer oder mehreren Krebsvorsorgeuntersuchungen gehen zu können oder zu wollen.
Auch DKG-Präsident Seufferlein verweist auf die reduzierte Früherkennung: „Die Menschen meiden die Krebsvorsorge nicht nur aus Angst vor Corona-Infektionen, sondern weil sie das Gesundheitssystem nicht zusätzlich belasten wollen.“ Vor allem bei häufigen Krebsarten wie Brust-, Dickdarm- und Eierstockkrebs wurde der Einsatz der Früherkennung zu Beginn der Pandemie reduziert.
Auch die Nachsorge leidet unter Corona
Der langjährige Onkologe Andreas Schalhorn appelliert an alle, die auch nur den geringsten Verdacht auf einen Tumor haben, diese Frage trotz Corona zu klären: „Die Abklärung sollte keinesfalls verschoben werden.“ Der Mediziner aus München rät zu einer vollständigen Corona-Impfung, um ein mögliches Ansteckungsrisiko während der Untersuchungen zu minimieren.
Aber auch bei der Krebsnachsorge laufe es nicht rund, sagt Seufferlein, Ärztlicher Direktor der Inneren Medizin am Universitätsklinikum Ulm. „In den Höhepunkten der Pandemie ist auch die Zahl der Nachsorgepatienten um 30 Prozent gesunken.“ Das ist bedauerlich, denn in den ersten fünf Jahren nach der Entfernung eines Tumors ist die Nachsorge, also die kontinuierliche medizinische und psychosoziale Betreuung, sehr wichtig, danach sinkt das Risiko eines Rückfalls deutlich. An den Krebszentren der Universitätskliniken in Deutschland wurden laut Weg-Remers im Dezember 2021 ein Viertel weniger Krebsnachsorgetermine vergeben als vor der Pandemie.
Der Rückgang der Diagnosen spiegelt sich auch in einem Rückgang der Krebsoperationen wider. Basierend auf den AOK-Abrechnungsdaten im Pandemiezeitraum von März 2020 bis Juli 2021 gab es im Vergleich zu 2019 einen Rückgang der Darmkrebs-Operationen um 13 Prozent und der Brustkrebs-Operationen um 4 Prozent. Mittelfristig zeigen sich dies laut AOK einen größeren Anteil an höheren Schweregraden der Erkrankungen – und damit die Sterblichkeit beeinflussen. Krebs ist die zweithäufigste Todesursache in Deutschland: Über 231.000 Menschen starben im Jahr 2020 daran.