„Du willst wissen, ob da noch mehr ist“

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„Du willst wissen, ob da noch mehr ist“
Achtsamkeit im Alltag als Voraussetzung – Betreuung im REHAB Basel im August 2021.

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Christian Flerl

In Großbritannien werden Komapatienten mittels Magnetresonanztomographie untersucht: Bis zu 25 Prozent bekommen mehr, als sie dachten. Ein Experte erklärt, wie die Methode in der Schweiz ankommt und welche Alternativen es gibt.

Adrian Owen hat ein neues Kapitel der vegetativen Zustandsforschung aufgeschlagen: Der englische Mediziner konnte mittels Magnetresonanztomographie nachweisen, dass 20 bis 25 Prozent der betroffenen Patienten mehr erleben als bisher angenommen. Dennoch kritisiert Owen, dass diese Diagnose in Großbritannien im Umgang mit Betroffenen nicht Standard sei.

Dass es solche Empfehlungen auch in der Schweiz nicht gibt, weiss Margret Hund-Georgiadis: Sie ist Chefärztin REHA Basel. Das Krankenhaus ist auf die Behandlung und Betreuung solcher Patienten spezialisiert, hilft aber auch bei der Rehabilitation nach Hirnschäden, Lähmungen oder anderen Erkrankungen.

Zur Person

REHA Basel

Privatdozent Dr. med Margret Hund-Georgiadis ist Ärztlicher Direktor und Chefarzt des REHAB Basel – Klinik für Neurorehabilitation und Paraplegiologie.

Als Experte weiß der medizinische Leiter nicht nur Owens Arbeit einzuordnen, sondern auch, wo ihre Schwächen und Alternativen liegen.

Frau Dr. Hund Georgiadis, gibt es einen vegetativen Zustand oder nicht – und nichts dazwischen?

Es gibt natürlich Menschen, die nach einer schweren Hirnschädigung in einem Zustand unempfänglicher Wachheit sind und bleiben. Wenn jemand im Koma aufwacht und beginnt, auf seine Umgebung zu reagieren, ist dies ein allmählicher Prozess. Angehörige und Behandelnde nehmen dies oft mit sehr unterschiedlicher Dynamik wahr: Während kleinste Veränderungen bei Angehörigen oft als sichere Zeichen und bewusste Reaktionen interpretiert werden, interpretiert das Behandlungsteam wiederkehrende und verbindliche Signale, die sich zuverlässig abrufen lassen, etwas zurückhaltender. Die Patienten sind nicht zu allen Tageszeiten gleich aktiv und können aufgrund von Medikamenten oder Müdigkeit manchmal keine Reaktion zeigen.

Wie ordnen Sie die Arbeit Ihres britischen Kollegen Owen ein?

Dies ist eine sehr wichtige Forschung für die Behandlung und Prognose von Patienten im Zustand nicht reagierender Wachheit. Neben der Klinik bietet es uns neben klinischen und elektrophysiologischen Verfahren auch bildgebende Diagnostik zur Sicherung unserer Diagnosen. Klinisch ist die Sache einfach: Solange wir bei einem Patienten, der nach einem schweren Hirntrauma mit offenen Augen wach ist, keine Reaktion abrufen können, befindet er sich in einem vegetativen Zustand. Die spannende Forschungsfrage des letzten Jahrzehnts war, ob die fehlende Reaktion des einzelnen Patienten durch beschädigte Bahnsysteme verursacht wird, die Motorik und Sprache unmöglich machen. Das bedeutet, dass der Patient Wahrnehmungen und Reaktionen hat, die er einfach nicht ausdrücken kann.

Das klingt nach einer guten Referenz.

Mittels funktioneller Magnetresonanztomographie hat Herr Owen erforscht, ob Komapatienten sozusagen verdeckt reagieren können. Leider ist die fMRT-Technologie nicht an jeder Bettkante verfügbar, sondern ein komplexes technisches Verfahren. Viele Wachkoma-Patienten hatten zunächst eine MRT-Diagnostik in der Akutklinik, aber nicht danach. Aus meiner Sicht brauchen wir dringend Methoden, die mit einer Bedside-Technik zu einem ähnlichen Ergebnis kommen.

Was bedeutet das?

Die meisten Behandlungsteams im deutschsprachigen Raum favorisieren eine elektrophysiologische Diagnostik wie die ereignisbezogene Hirnstromdiagnostik, um die fehlende Reaktion besser zu verstehen. Dieses Verfahren basiert auf einer EEG-Technik und hat sich in vielen Studien bewährt.

Bitte erkläre.

Wir überprüfen zunächst bei allen Patienten die sogenannten primären Hirnreaktionen mittels sensorisch evozierter Potenziale. Der Betroffene bekommt einen kleinen Stromimpuls in die Hand und wir messen die möglichen Veränderungen, die sich in den primären sensorischen Bereichen des Gehirns zeigen, eine vergleichbare Technik existiert für die visuelle und auditive Verarbeitung. Die primäre Potentialantwort hat verschiedene typische zeitliche Komponenten und Verläufe. Wenn alle Komponenten normal sind, schließen wir daraus, dass primäre Reize in den entsprechenden Gehirnbereichen ankommen. Unklar bleibt, ob die Reize auch vom Patienten bewusst wahrgenommen werden. Dies ist nur eine „Linienprüfung“.

Spezialisten: Das Basler Spital hat sich der neurologischen Rehabilitation verschrieben.

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Christian Flerl

Welche weiteren Untersuchungsmöglichkeiten haben Sie?

Anschließend folgen die sogenannten ereigniskorrelierten Potentiale. Man braucht eine gesunde Vergleichsgruppe und ermittelt die Reaktionspotentiale, also Reaktionen auf einen falschen Satz im Gehirn – zum Beispiel wenn man sagt „Der Storch frisst einen Tisch“ statt „Der Storch frisst einen Frosch“. Die Frage ist dann: Was macht der Patient mit diesem Höreindruck? Bei einem gesunden Menschen ergibt sich ein typisches Mismatch-Signal, während bei jemandem, der hören, aber nicht verarbeiten kann, nichts erkennbar ist. Zeigt der Wachkoma-Patient jedoch ein vergleichbares Mismatch-Potenzial wie der Gesunde, ist dies ein Hinweis auf eine höhere Verarbeitung und Wahrnehmung. Ein ähnliches Aufgabendesign wird auch im Owen-Paradigma im Kernspin verwendet.

Was ist der Vorteil dieser Methoden gegenüber dem Kernspin?

Diese funktionelle EEG-Diagnostik ist auch im klinischen Umfeld möglich, wenn keine Magnetresonanztomographie zur Verfügung steht. Das Verfahren ist jedoch prüfungs- und auswertungstechnisch aufwendig, sodass auch wir vom REHAB Basel eine konkrete Fragestellung benötigen. Dies geschieht nach der Erstdiagnose, wenn die Komplikationen vorüber sind und innerhalb von vier bis sechs Wochen nichts passiert. Wenn der Patient vegetativ und wach erscheint, aber nicht reagiert, möchte man unbedingt wissen, ob es mehr gibt.

Und welche Methoden wenden Sie im Alltag an?

Wir führen wöchentlich viele klinische Assessments durch, bei denen das Behandlungsteam aus Pflegekräften, Ärzten und Therapeuten Handlungen, Verhalten und Interaktionen mit dem Patienten auf fein abgestuften Skalen sehr genau erfasst. Wir beobachten Patienten: Gibt es motorische Äußerungen, Augenbewegungen, eine Blickfixierung oder eine Folgebewegung? Mit diesen sorgfältigen Beobachtungen kann man die kleinsten Verhaltensänderungen erkennen.

Haben wir Vorschriften für die Behandlung solcher Patienten?

Selbstverständlich gibt es in der Schweiz Behandlungsempfehlungen und medizinische Leitlinien für die Behandlung von Personen im Wachkoma, die von den Fachgesellschaften entwickelt wurden. Sie empfiehlt die konventionelle Kernspintomographie und EEG-Diagnostik, die funktionelle Kernspintomographie gehört ebenso wenig zum Standard wie das ereigniskorrelierte EEG.

Was ist die besondere Herausforderung in der Pflege?

Die besondere Herausforderung für Pflegekräfte und Ärzte besteht darin, mit dieser Reaktionslosigkeit im klinischen Alltag umzugehen und die Bedürfnisse des wachen und stillen Patienten in jeder Situation zu erkennen und wertzuschätzen. Wir haben hier auf der Wachkomastation ein Team, das teilweise schon seit vielen Jahren hier arbeitet. Es hat etwas sehr Behutsames, sehr Behutsames, sehr Achtsames, denn man muss hinschauen: Wie ist die Atmung? Wie ist der Herzschlag? Es gibt ganz andere Anzeichen, auf die wir achten. Mir ist wichtig, dass die Wachkoma-Patienten einen möglichst zufriedenen Eindruck machen. Sie zeigen, wenn sie mit einem schnellen Herzschlag oder Schwitzen gestresst sind. Ein erfahrenes Behandlungsteam erfährt schnell, was der Patient braucht, wie es ihm geht und wie der Patient unterstützt werden kann.

Die Klinik wurde 1967 als Schweizer Paraplegiker-Zentrum gegründet und firmiert seit 1997 unter dem Namen REHAB Basel.

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Christian Flerl

Was war Ihr längster Krankheitsverlauf?

Manchmal bleiben Patienten neun Monate bei uns, auch weil sie während ihrer Erstrehabilitation noch zahlreiche medizinische Komplikationen haben. Wenn jemand monatelang keine Reaktion oder Veränderung zeigt, also keine Rehabilitationsfortschritte, ist es für alle Beteiligten, besonders für die Angehörigen, schwierig. Dann ist es wichtig, eine gute Versorgung des Patienten nach der Rehabilitation zu organisieren, wenn eine Versorgung zu Hause nicht möglich ist.

Kommt das oft vor?

Als Spezialstation haben wir selbstverständlich solche schwer betroffenen Patienten bei uns, die mit einem Wachkoma und zahlreichen Komplikationen zu uns kommen. Diese Patienten zeigen manchmal monatelang keine signifikanten Veränderungen. Im klinischen Umfeld ist es besonders wichtig, alles zu tun, um den Patienten aufzuwecken. Dies kann eine drastische Reduzierung der Medikation oder der Medikamentenaktivierung bedeuten.

Wovon hängt die Länge des Komas ab?

Der größte Faktor ist der Schadensgrad, der den Zustand verursacht hat, und natürlich die Dynamik im Laufe der Zeit. Den Angehörigen sage ich immer: Je schneller Veränderungen nach der Akutphase auftreten, desto besser ist die Gesamtprognose. Wir hatten in den letzten zehn Jahren viele Patienten in unserer Reha, die im Wachkoma kamen und sich in den darauf folgenden zwei, drei Wochen deutlich erholten. Das sind die guten Läufe.

In einem vegetativen Zustand machen Angehörige große Ängste durch, oder?

Das ist ein sehr großes Thema und wir müssen sehr transparent damit umgehen. Am Anfang beschäftigen wir uns natürlich auch mit den medizinischen Komplikationen wie Lungenentzündung oder Trachealkanüle. Aber wenn wir hier monatelang nichts sehen und den Patienten nicht aktivieren können, ist es sehr schwer zu ertragen, dass jemand lebt, aber nicht ansprechbar bleibt. Es bedarf dann einer sehr ehrlichen und offenen Kommunikation mit den Angehörigen, die immer auch den mutmaßlichen Willen des Patienten einbeziehen sollte.