Handelt es sich um eine bloße Untererfassung der tatsächlichen Infektionen oder um eine Trendwende in der nun 5. Corona-Welle? Die Einschätzung der aktuellen Pandemielage ist kompliziert.
Berlin – Seit Wochen steigt die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz täglich – doch jetzt erreicht die Kurve womöglich ein Plateau.
Die Corona-Inzidenz der offiziell erfassten Fälle lag nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) am Mittwoch bei 1450,8 und damit nur knapp über dem Wert des Vortages (1441,0). Das Wachstum schwächelt seit Tagen. Wird die Welle brechen oder könnte die Entwicklung andere Gründe haben? Was ist bei der Einschätzung der Pandemie-Lage zu beachten.
Lage in der Welle
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und RKI-Chef Lothar Wieler sehen den Höhepunkt der bundesweiten Omicron-Welle noch nicht, wie sie am Dienstag in Berlin sagten. Dies wird jedoch noch für Februar erwartet. Allerdings gibt es einige Unsicherheiten in der Schätzung. Das RKI-Modell, das den Angaben zum möglichen Peak zugrunde liegt, hat die Wirkung der Virusvariante, von der Experten in den nächsten Wochen eine Zunahme erwarten, noch nicht berücksichtigt: omicron Subtyp BA.2. Nach heutigem Kenntnisstand könnte diese Variante noch besser übertragbar sein und die Omicron-Welle verlängern. Der Bioinformatiker Rolf Apweiler bezifferte den aktuellen BA.2-Anteil am Dienstag auf 10 bis 20 Prozent.
regionale Situation
Der Trend der Sieben-Tage-Inzidenz ist laut RKI in einigen Bundesländern weiter steigend, während es in anderen zuletzt rückläufige oder stagnierende Zahlen gab. Berlins Gesundheitssenatorin Ulrike Gote sagte am Dienstag, es könne sein, dass der Höhepunkt in der Hauptstadt bereits erreicht oder sogar überschritten sei. In den Labordaten gibt es Hinweise darauf.
Testen
Labore melden seit Wochen neue bundesweite Höchststände, sowohl bei der Zahl der durchgeführten Tests als auch beim Anteil positiver Ergebnisse. In vielen Bundesländern ist nach Angaben des Laborverbandes ALM bereits mehr als jede zweite aller ausgewerteten Proben positiv. Die bundesweit auf maximal rund 45 Prozent gestiegene Positivquote deutet darauf hin, dass viele Infektionen derzeit nicht im Labor bestätigt werden und daher nicht in der amtlichen Statistik auftauchen. „Je höher der Anteil der Positiven bei weiterhin hohen Fallzahlen ist, desto höher wird die Dunkelziffer der Infizierten in einer Bevölkerung berechnet (Underreporting)“, schreibt das RKI zum Thema im jüngsten Corona-Wochenbericht. Für RKI-Chef Wieler heißt das aber nicht, dass der Blick auf den Verlauf der Pandemie verloren geht, weil es neben den reinen Fallzahlen noch jede Menge andere Daten zu Krankheiten gibt. Dies zeigt bisher kein Brechen der Welle.
Testverhalten
Experten erwarten mit Spannung, wie sich das Testverhalten der Menschen vor dem Hintergrund der Diskussionen um immer knapper werdende PCR-Testkapazitäten entwickeln wird. Teilweise sehr lange Warteschlangen vor Testzentren und möglicherweise längere Wartezeiten auf das Ergebnis bei Personen, die nicht zu den priorisierten Gruppen gehören, könnten dazu führen, dass PCR-Tests vor allem in leichten Fällen weniger eingesetzt werden. Manche Menschen isolieren sich nach einem positiven Schnelltest, lassen ihre Infektion aber nicht mehr per PCR abklären – solche Fälle werden dann nicht in die Statistik aufgenommen, in der nur PCR-Nachweise enthalten sind. Eine Studie zum Vorkommen von Antikörpern in der Bevölkerung könnte laut Wieler wohl das Ausmaß des Underreportings nach Ostern aufzeigen.
Schwere der Erkrankung
Das zeigte sich zunächst in anderen Ländern, jetzt auch in Deutschland: „Der Anteil der Menschen, die bei omicron schwer erkrankt sind, ist geringer als bei Delta“, sagte Wieler. Der Anteil der Ungeimpften, die mit einer Corona-Infektion ins Krankenhaus kamen, ist bei Delta fast doppelt so hoch wie bei Omikron. Aber dennoch: „Unsere Daten zeigen ein deutlich höheres Risiko für eine Covid-19-Erkrankung bei ungeimpften Personen.“
alt
Experten und Politik geben noch keine Entwarnung zur klinischen Lage, weil sich bisher vor allem jüngere Menschen mit Sars-CoV-2 infiziert haben. Bei älteren Menschen steigen die Werte nur allmählich an. Inzwischen scheint sich eine Trendwende hin zu einem erneuten Anstieg der Patientenzahlen auf Intensivstationen abzuzeichnen. Die Zahl der Todesfälle sei derzeit rückläufig, könne aber wieder steigen, sagte Wieler. In Deutschland sind mehr Menschen ab 60 Jahren ungeimpft als in anderen Ländern.
Lockerung
Öffnungsschritte könnten dazu führen, dass sich die Welle länger hinzieht, warnte Lauterbach. Im vergangenen Jahr hatte das RKI einen Plan mit Optionen zum Rückzug von Maßnahmen vorgelegt. Für die völlig anderen Bedingungen bei Omikron ist noch kein solches Papier erschienen. Eine RKI-Sprecherin sagte auf Anfrage: „Natürlich behält das RKI die Entwicklung der Pandemie im Auge und passt Empfehlungen kontinuierlich an, aber letztlich sind Maßnahmen eine politische Entscheidung.“
Varianten
Auch wenn die Omicron-Welle abebbt, muss dies nicht das Ende der Pandemie bedeuten. Man müsse sich künftig auf Überraschungen einstellen, sagte Apweiler. Ihm zufolge werden weitere Varianten erscheinen, die sich stark von den bestehenden unterscheiden werden. Eine schnelle Impfung der Weltbevölkerung mit hochwirksamen Impfstoffen und eine weltweite Überwachung durch virusgenetische Analysen sind notwendig. dpa