Bis zum 24. Februar lebten Julia, Daria und Viktoria ein Leben wie in keiner anderen Großstadt Europas. Dann marschierte Russland in der Ukraine ein und die Frauen mussten mit ihren Familien fliehen. Auf regionalHeute.de erzählen sie ihre Geschichten.
Julia (ganz rechts), Daria (zweite von rechts) und Viktoria (ganz links) sind mit ihren Familien aus Kiew in den Kreis Helmstedt geflohen. Sie haben uns ihre Geschichte erzählt. Foto: Niklas Eppert
Helmstedt. Bis zum 24. Februar 2022 führte die Familie von Julia und Daria Zhuravska ein Leben, das in jeder europäischen Großstadt passieren könnte. Arbeit, Familie, Hobbys, mit Netflix, Instagram und allem anderen, was auch zu unserem Alltag gehört. Aber dann kam der Krieg. Mitten in der Nacht wurden sie von russischen Bomben geweckt und mussten ihre Heimatstadt Kiew mit Sack und Pack verlassen. Nun sind sie in einem Dorf im Kreis Helmstedt angekommen. In jedem Fall Frauen, Kinder und ältere Menschen. Die jungen erwachsenen Männer blieben zu Hause und warteten darauf, eingezogen zu werden. regionalHeute.de hat mit der Familie gesprochen. Über den Krieg, die Flucht und die Ankunft in Deutschland.
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Mykola Yalyzhko konnte sich nicht vorstellen, dass er mit fast 90 Jahren noch einmal fliehen müsste. Er ist das einzige Familienmitglied, das jemals einen Krieg erleben musste, als die Deutschen im Sommer 1941 in die Sowjetunion einmarschierten. Er war neun Jahre alt dann. Als er 13 war, war der Krieg wieder vorbei. Er hätte sich nie vorstellen können, dass der Krieg noch einmal kommen würde, und zwar von Russland, von der angeblichen Brudernation. Und so floh er als einziger erwachsener Mann der Familie aus seiner Heimat. Ausgerechnet nach Deutschland, dem Land, das den ersten Krieg begonnen hatte, den er miterleben musste. Jetzt sitzt er mit seiner Freundin Ludmilla, seinen Töchtern und Enkelkindern in einem Haus im Kreis Helmstedt. Ziemlich genau 1.500 Kilometer von seiner Heimat entfernt.
Plötzlich ist alles anders
In der ersten Nacht, als die Bomben auf Kiew fielen, wusste Daria Zhuravska, Mykolas Enkelin, nicht so recht, was sie um 5 Uhr morgens geweckt hatte. Die 27-Jährige stand auf, holte sich ein Glas Wasser und wollte weiterschlafen . Aber inzwischen war auch ihr Freund wach – er wusste es bereits. Der Krieg hatte begonnen, russische Verbände hatten die Grenze überschritten, die großen Städte wurden bombardiert. Auch Kiew. Nur einen Monat zuvor hatte sie einen neuen Job in einem IT-Unternehmen bekommen und sich gut mit ihren Kollegen verstanden. In nur wenigen Stunden war es nichts wert.
An einem anderen Ort in der Stadt lebten Darias Mutter Julia und ihre Tante Viktoria Konovalchuk im selben Haus. Julia weckte ihre Schwester und ihren Mann um 4:30 Uhr, und mitten in der Nacht tobte der Sturm. Viktoria, oder Vika, wie die Familie sie nennt, wollte zunächst nicht einmal die Tür öffnen. Es muss ein Witz oder ein Fehler sein. Erst später hätten sie erkannt, dass die Bilder in den Medien echt waren. Sie hatten bereits im Sommer 2021 Vorbereitungen getroffen, ihre Koffer gepackt und einen Treffpunkt festgelegt. Damals war der Krieg noch so weit weg.
Ein entferntes Grollen
Der Krieg in der Ukraine dauert eigentlich seit 2014 an. Damals besetzten unmarkierte russische Truppen die Krim. Nach einem umstrittenen Referendum, das von der westlichen Welt nicht anerkannt wurde, annektierte die Russische Föderation die Halbinsel. Kurze Zeit später erklärten sich die beiden Regionen Donezk und Luhansk zu unabhängigen Volksrepubliken, die teilweise mehr oder weniger offen von Russland unterstützt wurden. Aber dieser Krieg war weit weg, sagt Daria. Natürlich kannten Sie Leute, die aus dem Osten des Landes kamen, aber irgendwie haben Sie sich mit der Situation arrangiert. Es passierte sowieso nicht viel, denn bis zum 24. Februar ging das Leben des Durchschnittsmenschen normal weiter.Lesen Sie auch: Goslar bereitet sich auf Flüchtlinge aus der Ukraine vor
Julia Zhuravska hatte ihr eigenes kleines Geschäft in Kiew, liebte es zu tanzen und Yoga zu machen. Heute ist sie die einzige in der Familie, die Deutsch spricht. Sie will anderen Ukrainern in der Region helfen. Foto: Niklas Eppert
Als Daria an diesem Morgen in den Supermarkt gehen wollte, hatten sich schon bei der Öffnung lange Schlangen gebildet. Und doch gab es immer noch Menschen, die nicht sehen wollten, was passierte. Eine Kassiererin sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, es wäre nicht so schlimm. Aber Soldaten und Infanterie-Kampffahrzeuge waren bereits auf den Straßen, und die Stadt war befestigt. Also floh die Familie. Zuerst nach Westen, Lemberg. Die Ukraine zu verlassen, war für sie noch keine Option. Das änderte sich erst unterwegs.
Die „leichte“ Flucht
Die Familie beschloss, Kiew frühzeitig zu verlassen. Ein Glücksfall für sie, wie sie im Interview mit regionalHeute.de erzählen. Ihre Flucht beschreiben sie immer wieder als „einfach“; andere hätten es viel schwerer, gerade jetzt, wo der Krieg immer tiefer ins Landesinnere vordringt. Sie fuhren mit sechs Autos los, mit Gepäck, 18 Personen, drei Katzen und einem Hund. Zunächst fanden sie in einem Haus am Stadtrand von Kiew Unterschlupf, wo sie im Keller schliefen. An diesem Abend überwand Viktoria die Situation, wie sie sagt. Von einem Moment auf den anderen konnte sie ihre Beine nicht mehr bewegen. Sie geriet in Panik, weinte. Ihre kleine Tochter Maria sah zu, wie die Männer sie aus dem Keller trugen. Sie war körperlich unverletzt. Es waren Angst und Stress, die jetzt ihren Tribut forderten.Lesen Sie auch: Die ersten Flüchtlinge sind in der Jugendherberge Schöningen angekommen
Viktoria Konovalchuk arbeitete früher in einer Bank, entschied sich aber nach der Geburt ihrer Tochter Anna, zu Hause zu bleiben. Zusammen mit Anna hat sie es nach Deutschland geschafft. Foto: Niklas Eppert
Aber die Flucht musste weitergehen, immer weiter nach Westen. Vorbei an Checkpoints, abseits der Autobahnen und Hauptstraßen. Damals waren die Männer noch da, darunter Sascha, der Ehemann von Julia Zhuravska. Vor dem Krieg lebte er im Kreis Helmstedt, war selbstständiger Handwerker und kaufte sich vor zwei Jahren ein kleines Haus. Er war in die Ukraine zurückgekehrt, um seine Familie herauszuholen. Immer wieder diskutierten sie, wohin die Reise eigentlich gehen sollte. Ursprüngliches Ziel war Lemberg, wo sich die Frauen ebenfalls freiwillig engagieren wollten. Sie dachten, sie wären dort sicher, würden sich im Westen des Landes niederlassen und dann selbst sehen, was sie tun könnten. Doch wo sie anhielten, waren Kampfjets, Helikopter und Granateneinschläge zu hören. Die Frauen sagen, dass ihnen die Kämpfe bis nach Lemberg folgen, und das wird ihnen jeden Tag klarer. Also beschlossen sie, den Kindern zuliebe, die Grenze nach Polen zu überqueren. Auch war allen klar, dass die Männer bleiben mussten.
Lesen Sie nächste Woche im zweiten Teil „Flucht in die Region: Der lange Weg nach Deutschland“
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