Berlin (dpa) – Sie hat heimlich Berliner Lebensmittelmarken zugesteckt. Oder sie steckten der jungen Frau unauffällig ein Stück Brot oder einen Apfel in die Manteltasche. Einige Mutige blinzelten ihre mit dem Davidstern gebrandmarkten Mitbürger auf der Straße als Zeichen der Solidarität an.
„Aber die meisten haben uns mit ausdruckslosen Augen angesehen“, sagte die Holocaust-Überlebende und Autorin Inge Deutschkron einmal. Ihr Leben auf der Flucht begann an dem Tag, an dem sie den gelben Davidstern abnahm. Deutschkron und ihre Mutter überlebten die Schreckensherrschaft der Nazis im Versteck. Als wachsame Mahnerin gegen das Vergessen erzählte sie jungen Menschen jahrzehntelang ihre Lebensgeschichte. Ihre dramatische Autobiographie „Ich trug den gelben Stern“, erschienen 1978, machte sie berühmt.
Deutschkron starb am Mittwoch im Alter von 99 Jahren in Berlin, wie die Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa und die Inge Deutschkron-Stiftung unter Berufung auf ihr persönliches Umfeld bestätigten.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier lobte ihr Engagement, „aus den Verbrechen des Nationalsozialismus die richtigen Lehren zu ziehen“. Er schrieb nach einer Nachricht: „Trotz allem, was ihr von Deutschen angetan wurde, hat sich Inge Deutschkron nicht von Deutschland abgewandt.“
„Mit Inge Deutschkron verlieren wir eine wichtige jüdische Zeitzeugin des nationalsozialistischen Terrors in unserer Stadt“, teilte das Abgeordnetenhaus von Berlin mit. „Wir alle werden Inge Deutschkron sehr vermissen“, heißt es auf der Website der Inge Deutschkron-Stiftung. „Ideenreich, immer kämpferisch gegen jede Form von gesellschaftspolitischem Unrecht, war sie eine ständige Motivationsquelle für ihre Freunde“, heißt es in einer Erklärung des stellvertretenden Vorsitzenden André Schmitz.
Damit sich die Geschichte nicht wiederholt
Deutschkron war oft beeindruckt von den Begegnungen mit jungen Menschen. „Das ist eine Generation, die es wissen will.“ Die schrecklichen Ereignisse zu erklären, damit sich die Geschichte nicht wiederholt – das verstand Deutschkron als ihre Aufgabe.
Jedes Jahr an ihrem Geburtstag feierte Deutschkron ihr Überleben. „Ich sage immer, das ist der Tag meines Triumphs. Ich lebe und die Banditen, die mich töten wollten, nicht“, sagte Deutschkron. Tausende jüdische Berliner wurden in die Vernichtungslager deportiert und von den Nazis ermordet. In einem Versteck sah sie vom Fenster aus zu, wie die Gestapo Menschen aus ihren Häusern holte und auf Wagen steigen musste. „Es war schrecklich. Die Schuld lässt dich nie los. Du denkst, wie konntest du die anderen gehen lassen und hast versucht, dich zu verstecken.“
Am 23. August 1922 in Finsterwalde geboren, wuchs Deutschkron ab 1927 in Berlin auf. Als es nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 für Juden immer schwieriger wurde, Arbeit zu finden, fand Inge 1941 mit gefälschten Papieren eine Stelle in der Blindenwerkstatt von Otto Weidt. „Weidt hasste die Nazis und würde alles tun, um seinen jüdischen Arbeitern zu helfen. Wir alle verehrten ihn und nannten ihn Papa.“
Ins Konzentrationslager deportiert
Ende 1942 wurden die letzten Familienmitglieder in NS-Konzentrationslager deportiert. Nur Vater Martin Deutschkron konnte nach England emigrieren. Mutter und Tochter konnten das Land nicht mehr verlassen und mussten untertauchen. 1943 machte die Familie Gumz das Angebot: „Frau Deutschkron, nehmen Sie den Stern ab und kommen Sie mit Inge zu uns. Wir verstecken Sie“, sagte Frau Gumz. Es ist der Beginn einer Odyssee von Versteck zu Versteck – inklusive eines ehemaligen Ziegenstalls und eines Bootshauses an der Havel.
Nach Jahren auf der Flucht und im Versteck, nach der Nachricht von der brutalen Ermordung so vieler jüdischer Verwandter und Freunde, brach die damals 22-jährige junge Frau am Ende des Krieges zusammen. „Ich könnte nicht glücklicher sein“, schrieb Deutschkron in ihrer Autobiografie. „Wir haben tagelang geweint.“
1946 brachte Vater Deutschkron Frau und Tochter nach England. Inge studierte Fremdsprachen und arbeitete im Londoner Büro der Sozialistischen Internationale. Ende der 1950er Jahre wurde sie Deutschland-Korrespondentin der israelischen Zeitung „Maariv“ in Bonn. 1972 zog Deutschkron nach Tel Aviv und arbeitete bis 1987 in der „Maariv“-Redaktion. Viele Jahre pendelte der Autor zwischen Tel Aviv und Berlin. Seit 2001 lebt sie wieder in ihrer deutschen Heimatstadt.
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