Gesundheit: Kriegs- und Coronaängste: Was dagegen hilft

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Erst Pandemie, jetzt Krieg: Viele Menschen erleben gerade eine emotionale Erschöpfung. Immer mehr rufen den Schwäbischen Krisendienst oder die Telefonseelsorge an. Was Experten raten.

Die Pandemie hat ihren Schrecken noch nicht verloren, die nächste kommt. „Für viele ist das Fass einfach voll“, bringt es Dr. Lena Grüber auf den Punkt und beobachtet bei vielen Menschen eine zunehmende emotionale Erschöpfung. Die Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie an den Kreiskliniken Schwaben bildet gemeinsam mit ihrer Kollegin Dr. Ingrid Bauer den Krisendienst Schwaben, die kostenlose telefonische und aufsuchende Hilfe für Menschen in psychischen Notlagen. Und dort rufen seit über einer Woche deutlich mehr Leute an, weil sie Angst haben. Weil ihnen der Ukraine-Krieg so nah und so bedrohlich erscheint.

Es gibt einen separaten Service für Russischsprachige

Die Telefonseelsorge verzeichnet mehr Anrufe. Oft bieten Hildegard Steuer und ihre Kolleginnen in der Telefonseelsorge den verängstigten Menschen in der Leitung zunächst eine kleine Atemübung an. Im wahrsten Sinne des Wortes tief durchatmen. Denn von großen Ängsten geplagte Anrufer seien oft zunächst nicht in der Lage zu sprechen, sagt Steuer, Leiterin der Ökumenischen Telefonseelsorge in Augsburg. Es seien vor allem Alleinlebende, die zum Telefonhörer greifen und die Nummer der Telefonseelsorge wählen, sagt Steuer. Was viele vielleicht nicht wissen: Die Telefonseelsorge bietet auch russischsprachige Beratungsangebote an. Es heißt „Telefon Doweria“ und ist unter 030/440 308 454 zu erreichen.

Experten sehen in allen Altersgruppen wachsende psychische Belastungen: Durch die Pandemie sei die Nachfrage nach ambulanter Psychotherapie für Kinder und Jugendliche um rund 40 Prozent gestiegen, erklärt Frank Lohmann. Der Psychologe, der den Psychologischen Dienst des Kreiskrankenhauses Kempten leitet, sieht Kinder und Jugendliche auch nach dem Krieg als besonders gefährdet für die Entwicklung von Ängsten an. Denn gerade Jugendliche könnten die Bedrohungslage deutlich schlechter einschätzen als Erwachsene.

Doch nicht nur die Jüngsten drohen in diesen Kriegstagen besonders große Ängste zu erleiden. Auch ältere Menschen, die Krieg und Gewalt unmittelbar erlebt haben, werden einbezogen. Auch wenn das, was passiert ist, viele Jahrzehnte her ist. Auch Menschen, die aus Kriegsgebieten geflohen sind, sind stärker gefährdet.

Kriegserlebnisse hinterlassen Spuren und können immer wieder aktiv werden

Und gerade bei Angststörungen kommen meist zwei Faktoren zusammen: biografische Erfahrung und ein konkreter Auslöser. Schließlich hinterlassen direkte Kriegserlebnisse so tiefe Spuren in unserem Gehirn, erklärt der Psychologe, dass sie durch aktuelle Auslöser immer wieder aktiviert werden können. „Und je konkreter ein Erlebniswert im Gehirn eingeprägt ist, desto leichter lässt er sich wieder aktivieren.“

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Auch die Generation, die in den 1960er und 1970er Jahren mit der Bedrohung durch den Kalten Krieg aufgewachsen ist, hat Spuren in ihren Köpfen hinterlassen. Werden diese aktiviert, stellt sich sofort wieder ein Gefühl der Bedrohung ein. Er betont aber auch, dass Angst grundsätzlich etwas Normales, sogar etwas Wichtiges ist: „Angst ist für uns Menschen ein evolutionärer Vorteil, der uns dazu bringt, vorausschauend zu handeln und uns vorsichtig zu verhalten.“ Und in dieser Zeit, „wenn es eine Pandemie gibt, wo es Krieg und Klimawandel gibt, ist Angst ein durchaus nachvollziehbares Phänomen.“ Dennoch lasten Ängste auf den Menschen. Vor allem, wenn sie einsam sind. Deshalb, sagt er rät, nicht nur bewusst und oft mit Kindern über die Bilder und die Nachrichten zu sprechen; gerade ältere Menschen, die alleine leben, sollten unbedingt alle ihre sozialen Netzwerke aktivieren oder offizielle Hilfsangebote nutzen und über den Krieg und das, was er in ihnen auslöst, sprechen.

Aber wäre es nicht auch sinnvoll, sich zurückzuziehen? Fernseher oder Smartphone ausschalten? „Nun, gerade Angststörungen werden am stärksten durch Vermeidung aufrechterhalten“, sagt der Psychologe. Viele ängstliche Menschen neigen sogar zur Verdrängung, zur Ablenkung, „aber sie erleben nichts, was sie entlastet“, betont Lohmann. Andererseits lässt sich die aktuelle Bedrohungslage in einem Gespräch über den Krieg noch einmal einordnen. Sie können erkennen, dass wir im Frieden sind, dass wir eine funktionierende Regierung haben und dass keine unmittelbare Lebensgefahr besteht.

Sprechen Sie darüber und handeln Sie

Lohmann empfiehlt jedoch nicht nur den Austausch. Er empfiehlt auch aktives Handeln: „Der Krieg erschüttert unser elementares Kontrollbedürfnis“, erklärt er. Das hat die Pandemie zu Beginn so extrem belastend gemacht. Seitdem wir aber gelernt haben, uns besser zu schützen, indem wir uns impfen lassen, Abstand halten, eine Maske tragen, fühlen wir uns dem Coronavirus nicht mehr komplett ausgeliefert – „das Gefühl der Ohnmacht ist das Gegenteil von Kontrolle und extrem ungesund „. Da es in der Psychotherapie heißt, „Handeln hilft“, tun sich die Ehrenamtlichen, die jetzt Spenden sammeln oder sich anderweitig engagieren, auch mental etwas Gutes.

Sich bewusst etwas Gutes zu gönnen und vor allem körperlich aktiv zu werden, zum Beispiel in Form von Spaziergängen, ist auch ein Weg, den Dr. Lena Grüber mehr denn je empfiehlt. „Aber viele sind in einer Schockstarre“, sagt sie und rät zu einem kontrollierten Medienkonsum, um nicht ständig düsteren Nachrichten ausgesetzt zu sein. Und auch wenn die Angst in der aktuellen politischen Situation verständlich ist, kann die Belastung gerade für Menschen mit psychischen Veranlagungen riskant sein. Zu den Signalen, die auf die Notwendigkeit einer intensiveren therapeutischen Begleitung hinweisen können, zählen für sie unter anderem zunehmende Schlafstörungen, sozialer Rückzug und beklemmende Gedanken, aus denen die Betroffenen keinen Ausweg finden. Beim Krisendienst Schwaben werde jeder Anrufer individuell beraten, betont Grüber. Darüber hinaus wird in besonders stressigen Situationen Hilfe vor Ort angeboten.

Hilfe Der Schwäbische Krisendienst ist unter der kostenlosen Rufnummer 0800/655 3000 erreichbar. Die Telefonseelsorge unter 0800/1110111 oder 0800/1110222, per E-Mail oder Chat.