Politische Polarisierung: Der Hufeisenwahn – Wissen

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Besserwisser dieser Welt haben das Internet als Sprachrohr entdeckt. Dort brüllen sie ihre Gewissheiten heraus, picken sich gegenseitig die Augen aus und provozieren Ekel bei den stummen Lesern. Die Faustregel dieser ideologisch gefärbten Dauerkämpfe lautet offenbar: Je verrückter eine Aussage ist, desto ausgeprägter ist die Gewissheit, mit der sie vertreten wird.

In der Politik stellt das natürlich ein immenses Problem dar – die Betonköpfe beider Lager schlagen die Schädel aneinander und wirbeln jede Menge Staub auf, der die Debatten trübt. Der Philosoph Karl Popper ging einst so weit, diesen Hang zur Gewissheit als fundamentalen Bestandteil des Totalitarismus zu bezeichnen: Wer das eigene Weltbild für den einzigen Weg mit absoluter Gewissheit in eine glückliche Zukunft hält, kann damit abscheuliche Taten rechtfertigen und Gegner abstempeln als böse und gemein bezeichnen oder sofort absetzen.

Nun hat kein Lager ein Monopol auf totalitäre Tendenzen und Wahnvorstellungen, vielmehr sind beide Enden des politischen Spektrums gleichermaßen anfällig. Die Psychologen Thomas Costello und Shauna Bowes haben gerade eine Studie veröffentlicht, die Aspekte dieses Phänomens nachzeichnet. An den äußersten Enden des politischen Spektrums nimmt die wahrgenommene Sicherheit zu, dass die eigene Meinung wie sie absolut richtig ist im Tagebuch Sozialpsychologie und Persönlichkeitswissenschaft etwas melden. Unter linken und rechten Eiferern glaubte jeder Dritte, dass das eigene Weltbild zu 100 Prozent richtig sei und die Realität perfekt beschreibe. Bei den Gemäßigten in der sogenannten politischen Mitte hingegen war nur jeder 15. Befragte mit der Gabe eines absolut objektiven Blicks auf das Geschehen gesegnet.

Politische Gegner diagnostizieren immer wieder einen Mangel an Intelligenz auf der anderen Seite

Entsprechende Ergebnisse haben Psychologen um Rachel Hartman gerade in einer weiteren Studie veröffentlicht. Entsprechend halten Anhänger der beiden großen US-Parteien die Wähler auf der anderen Seite für weniger unmoralisch oder gar böse als vor allem für dumm. Es ist ein Mangel an Intelligenz, der die Mitglieder der politischen Opposition zu ihren Ansichten treibt. Auch diese Haltung strotzt nur so vor Selbstbewusstsein: Wir kennen die einzige Wahrheit, also muss jeder, der anders denkt, dumm wie Brot sein. Es ist logisch.

Fast alle Menschen neigen dazu, sich in einigen oder sogar vielen Dingen zu überschätzen. Bildung, Fahrkönnen, Hausarbeit, Moral und Tugend – in diesen und anderen Bereichen stellt die Mehrheit gerne ein Selfie-Zeugnis mit überdurchschnittlichen Noten aus. Die psychologische Forschungsliteratur zur alltäglichen Hybris ist prall gefüllt. Auf den äußersten Rängen der politischen Arena steigt die Selbstüberschätzung einfach zu besonderen Höhen an.

Sowohl linke als auch rechte radikale Strömungen ziehen Menschen an, die sich in ihren psychologischen Eigenschaften ähneln. Sie ähneln sich in ihrem Dogmatismus, ihrem Selbstbewusstsein, ihrer Irrationalität und ihrem starren Denken. Die aktuelle Studie kann auch als Argument für die sogenannte Hufeisentheorie interpretiert werden. Demnach stehen Links- und Rechtsextremisten in vielen Positionen oder Dispositionen oft erstaunlich nah beieinander und wahren andererseits eine größere Distanz zur gemäßigten politischen Mitte. Die nettesten Menschen, die Putin verstehen, findet man zum Beispiel unter denen ganz rechts und ganz links.