Veränderte Kliniksituation: Covid-19 oder positiv mit gebrochenem Bein?

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Veränderte Kliniksituation: Covid-19 oder positiv mit gebrochenem Bein?

Omicron treibt die Fallzahlen in die Höhe: Kliniken melden zunehmend Virusfunde bei Patienten mit anderen Erkrankungen. Was dahintersteckt und was das für die Datenlage bedeutet.

Hamburg/Berlin – Es gibt Schwangere, Kinder, Menschen mit Herzinfarkt, nach einem Unfall oder mit einem gebrochenen Bein.

In der omicron-Welle häufen sich auf den Normalstationen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) Fälle von positiv auf Corona getesteten Menschen, die dort aus ganz anderen Gründen behandelt werden. Das berichtet der Direktor der UKE-Klinik für Intensivmedizin, Stefan Kluge.

In Daten zur Covid-19-Krankenhausbelegung dürften solche Zufallsfunde dennoch häufig auftauchen – in den nackten Zahlen sind sie nicht von Patienten mit beispielsweise schwerer Lungenentzündung oder eher Covid-19-typischem Lungenversagen zu unterscheiden. „Bisher wird nicht gesondert erhoben, ob ein Patient mit oder wegen Sars-CoV-2 behandelt wird“, sagte Kluge.

Kritiker warnen, dass mangelnde Differenzierung die Interpretation der Situation in den Krankenhäusern in den kommenden Wochen erschweren könnte. Andere Stimmen halten die Unterscheidung für nicht so wichtig, weil sie für die Belastung der Kliniken keinen Unterschied macht.

Transparente Handhabung erforderlich

Zuvor war es möglich, dass einige zufällig gefundene Infizierte in der Statistik landeten. Das Ausmaß ist laut Kluge in diesen Tagen erwähnenswert: „Mit Omikron haben wir inzwischen eine wachsende Gruppe von Patienten, die Sars-CoV-2-positiv sind, bei denen der Aufnahmegrund aber davon unabhängig ist.“ Das berichtet auch die Kollegen aus Hannover und Bremen – und das hat sich zuletzt auch in Ländern wie den USA und Großbritannien gezeigt. Damit müssen wir transparent umgehen“, sagte Kluge, Mitglied des Präsidiums der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin und Notfallmedizin (DIVI).

Wie groß der Anteil der zufällig positiv getesteten Patienten bundesweit ist und werden könnte, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Kluge sieht Normalstationen besonders betroffen. Befragungen im Ausland kamen auf einen Anteil von über 50 Prozent der Fälle, die mit und nicht ursächlich wegen Covid-19 behandelt wurden. Auf Intensivstationen sind es wohl deutlich weniger.

Schätzungen aufgrund von Verzögerungen bei der Berichterstattung

Bisher wird die klinische Situation wie folgt erfasst: Die Zahl der Patienten mit Corona-Infektion auf Intensivstationen ist tagesaktuell im Divi-Intensivregister abrufbar. Zudem weist das Robert-Koch-Institut (RKI) Werte zu Krankenhauseinweisungen von Corona-Infizierten aus – pro 100.000 Einwohner und Woche berechnet und auf Basis von Meldungen der Krankenhäuser. Aufgrund der hohen Meldeverzögerung liefert das RKI auch eine Schätzung dieser Krankenhaushäufigkeit.

Zu den Meldekriterien für Krankenhauseinweisungen schreibt das RKI, dass zum Zeitpunkt der Meldung kein direkter kausaler Zusammenhang zu Covid-19 hergestellt werden muss. „Damit soll eine niederschwellige, schnelle und aufwandsarme Meldung gewährleistet werden.“ Stellt sich jedoch bei der Aufnahme heraus, dass es keinen Zusammenhang mit der Covid-19-Diagnose gibt, beispielsweise bei einem Verkehrsunfall, besteht keine Meldepflicht.

Einige Experten bemängeln, dass mit der Omicron-Welle und milderen Verläufen bessere Daten zur Situation auf den Normalstationen der Kliniken benötigt würden. Aspekte wie Belastung und Schweregrad der Erkrankung sollten aus ihrer Sicht bei der Beurteilung der Situation stärker berücksichtigt werden. Die reine Fallzahl hingegen verlor an Bedeutung.

Unverständnis nach zwei Jahren Pandemie

Die Belastung könne mit den vorliegenden Daten nicht abgeschätzt werden, sagte Eugen Brysch, Vorstandsmitglied der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Es ist unverständlich, dass es auch nach zwei Jahren Pandemie keine aktuellen Lagebilder gibt, die beispielsweise auch die Bettenkapazitäten und die Belegung der jeweiligen Stationen zeigen.

Wie die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) rechnet Brysch mit einer Zunahme von Zufallsbefunden in der omicron-Welle. DKG-Geschäftsführer Gerald Gaß erklärte, dies liege nicht nur an dem flächendeckenden Auftreten des Virus in der Bevölkerung, sondern insbesondere an den durch die Impfungen weniger ausgeprägten Krankheitssymptomen. Gass betonte aber auch: „Die Unterscheidung zwischen Covid-19 als Haupt- oder Nebendiagnose/Zufallsbefund ist für die Krankenhäuser irrelevant. In beiden Fällen müssen im stationären Bereich die gleichen aufwändigen Isolations- und Schutzmaßnahmen ergriffen werden.“

Der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité argumentiert in einer Stellungnahme, dass unter omicron erstmals Zufallsbefunde in Kliniken relevant wären und in die Bewertung des Lagebildes einfließen müssten – mehr aber auch nicht. „Entscheidend ist, dass die Fälle „wegen Covid“ auch unter Omicron noch weit in der Überzahl sind und weiterhin das Lagebild dominieren.“

Zufallsbefunde nicht bedeutungslos

Zu berücksichtigen sei auch, dass zu den sogenannten Zufallsbefunden auch solche Fälle gehören, in denen die Infektion zu einer Verschlechterung einer Grunderkrankung führen könnte, schreibt Drosten. Dies ist auch in der aktuellen Omicron-Welle zu beobachten. Es besteht die Gefahr, dass Menschen mit relevanten Vorerkrankungen nicht unbedingt zuerst die klassischen Covid-Symptome bemerken, sondern eher eine Verschlechterung ihres Allgemeinbefindens. „Allerdings wäre es irreführend anzunehmen, Sars-CoV-2 sei in diesen Fällen ein bedeutungsloser Zufallsbefund gewesen“, betont der Virologe. Schließlich ist der Grund für die Verschlechterung die Infektion. Vor diesem Hintergrund wären Behandlungen oft besonders teuer.

RKI-Vorgaben, wie die Bereitstellung getrennter Bereiche für Infizierte sowie für Verdachts- und Quarantänefälle mit strikter personeller Zuordnung, stellen Normalstationen nun vor „immense Herausforderungen“, wie Intensivmediziner Kluge beschreibt. Ihm zufolge sollten die Regeln an die reale Situation angepasst werden. „Wir haben mittlerweile ein so breites Spektrum an infizierten Patienten, dass wir fachspezifische Isolierbereiche im Kinder-UKE, in der Kardiologie, Chirurgie und so weiter brauchen. Ursprünglich hatten wir eine Covid-Station für Innere Medizin.“

Kann man bei der Patientendatenerfassung noch Anpassungen vornehmen? Als grundsätzliches Problem sehen Experten den Stellenwert Deutschlands bei der Digitalisierung. „Wir brauchen Automatisierung“, sagte Kluge. Bisher werden jeden Tag Covid-19-Intensivfälle manuell in das System eingegeben. Und Faxe würden verschickt.

Das Datenproblem sei dem Bundesgesundheitsministerium bekannt: Tagesaktuelle Fallzahlen von Patienten, die mit oder wegen Covid eintreffen, hieß es. Dies ist in der hochdynamischen Situation zur Beherrschung des Prozesses zwingend erforderlich. An einer Lösung wird gearbeitet.

Kluge war derweil skeptisch, ob zeitnah nachgebessert werden könne und ob der Mehraufwand gerechtfertigt sei. Egal wie viele Zufallsbefunde: „Die Belastung ist einfach da.“ dpa