Wenn es an Informationskompetenz mangelt: Alles nur „Lügenpresse“? – Medien – Gesellschaft

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Die Zerstörung der Entbindungsklinik in Mariupol, Ukraine: Das war keine Inszenierung ukrainischer Schauspieler in einem leerstehenden Gebäude, sondern ein russischer Angriff auf Zivilisten. Russlands letzte unabhängige Medien sind verstummt – nicht weil sie Unwahrheiten berichteten, sondern weil sie sich dem Lügenzwang des Kremls widersetzen. Mit dieser und vielen anderen Meldungen zum Krieg in der Ukraine fühlen wir uns richtig informiert, denn wir stellen fest, dass die meisten Medien die redaktionellen Sorgfaltsregeln weitgehend beherrschen: Sie nennen in der Regel ihre Quellen und geben an, was überprüft werden könnte, was unklar ist und was umstritten geblieben ist.

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Periodische Erhebungen zeigen, dass mehr als drei Viertel der erwachsenen Bevölkerung die klassischen Informationsmedien nutzen, um sich täglich zu informieren – allen voran die Nachrichten der Radiosender, gefolgt von den Nachrichten der großen Zeitungen. Und mehr als die Hälfte der Befragten fühlt sich laut einer Umfrage von Infratest-dimap im Corona-Jahr 2020 gut informiert.

Umgekehrt ist die Situation die gleiche: Mehr als ein Drittel der Deutschen steht den Mainstream-Medien skeptisch gegenüber. Rund ein Viertel findet sein Nachrichtenangebot unglaubwürdig; 35 Prozent glauben, dass die Politik die Medienberichterstattung beeinflusst.

Medienskeptiker leben in Mitteldeutschland

Die Mehrzahl dieser Medienskeptiker lebt in Mitteldeutschland, viele von ihnen äußern Unzufriedenheit mit unserer Demokratie und Sympathie für die AfD. Aus ihrer Sicht repräsentieren die Mainstream-Medien die politische Agenda der westdeutschen Eliten. Und sie sind gegenüber den Ostdeutschen arrogant und hören nicht auf ihre Sorgen und Ängste. Bei aller Meinungsvielfalt war kein Platz für ostdeutsche Erfahrungen und Positionen. Wer sich genau informieren und die Perspektive Andersdenkender kennenlernen will, ist auf alternative Medien angewiesen.

Diese im Osten weit verbreitete Medienskepsis habe ich während der Zeit der sogenannten Flüchtlingskrise in Gruppengesprächen mit Zeitungslesern in Sachsen näher kennengelernt. Viele sprachen davon, dass sie zwar die Nachrichten von ARD und ZDF konsumierten, aber nur, um zu erfahren, was die „Politik“ spreche. Was die Mächtigen treiben, erfährt man nicht aus den Mainstream-Medien. Als ich einwandte, dass Journalisten recherchieren und Fakten prüfen, wurde mir gesagt, dass es nur um Banalitäten gehe. Die einseitige Sicht der Medien wird verstärkt, gesellschaftliche Themen werden beiseite geschoben und Andersdenkende zum Schweigen gebracht.

mangelnde Kompetenz

Etwa zeitgleich veröffentlichte die TU Dresden eine Studie zum Medien- und Informationswissen von Jugendlichen an sächsischen Schulen, oder besser gesagt: zum weitverbreiteten Mangel an Informationskompetenz. Zeitungstexte werden diskutiert, aber die Lehrer – und damit ihre Schüler – verstehen nicht die Logik, nach der die Medien und der Nachrichtenjournalismus funktionieren. „Nachrichtenkompetenz und Medienkompetenz müssen endlich als Pflichtbestandteile in der Lehrerbildung etabliert werden“, schrieb die Studienleiterin. In die gleiche Richtung zielte der Beschluss der Kultusministerkonferenz 2016 zu „Kompetenzen in der digitalen Welt“. Seitdem bemühen sich die Schulträger der Länder, Medien- und Nachrichtenkompetenz im Unterricht unterzubringen.

Auch Zeitungsverlage haben dieses Qualifikationsdefizit früh erkannt. Um Schüler an die Presse heranzuführen, gibt es erprobte Programme (wie „Zeitung in der Schule“) und seit einigen Jahren die Initiative „Journalismus macht Schule“: Engagierte Medienschaffende geben Kurse oder gehen in Schulen und Zeigen Sie den Jugendlichen, wie sie Lügen im Internet erkennen, Shitstorms vermeiden und Videos produzieren.

Minderheit bestimmt die Stimmung

Diese Projekte und Programme sind dort sehr sinnvoll, wo bereits eine Wertschätzung für journalistische Medien besteht. Wo jedoch viele Eltern Mainstream-Medien eher ablehnen und Journalisten als Vertreter der „Lügenpresse“ sehen, funktioniert dieser Ansatz nicht. In Ostsachsen sagten Berufsschullehrer zu mir: „Wenn wir die etablierten Medien präsentieren und Journalisten einladen, kommen diverse Eltern und beschweren sich, dass wir die Lügenpresse unterstützen – also lieber nicht.“ Nur eine Minderheit denkt so, aber es würde Stimmung machen. Was ist zu tun?

In Gesprächen und Lehrerkonferenzen haben uns Pädagogen auf die Idee gebracht, nicht bei der Medienwissenschaft anzusetzen, sondern beim Online-Alltag der Schüler, wo Verstehen durch Mitmachen wichtig ist: Wie reden wir, wenn wir etwas beschreiben oder etwas verdeutlichen oder wollen beurteilen? Wie sollen wir argumentieren, wenn wir unsere Motive verständlich machen und die der anderen verstehen wollen? Mit dieser Herangehensweise praktizieren die Jugendlichen dieselbe Kommunikationslogik, die journalistischen Weltbeschreibungen zugrunde liegt: Wie stelle ich einen Sachverhalt dar, welche Attribute geben wertend Farbe? Wie begründe ich meine Einschätzung – und wie erzähle ich die Geschichte so, dass meine Zuhörer „mitmachen“? Anschließend lernen die Studierenden, Suchinstrumente im Internet kompetent zu nutzen und sicheres Wissen aufzubauen.

Journalismus schätzen

Die Überraschung kommt zum Schluss: Jetzt werden auch defensiv eingestellte Jugendliche neugierig und interessieren sich für die Arbeit der Journalisten. Jetzt verstehen sie, wie journalistische Medien funktionieren, weil sie sich zunächst Sprachkenntnisse und die Funktionslogik des Internets angeeignet haben. Nun können sie auch falsche oder einseitige Darstellungen von glaubwürdigen Nachrichten unterscheiden – also gut gemachten Journalismus erkennen und wertschätzen.

Trainingsprogramm „fit for news“:

Das Europäische Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung (EIJK) in Leipzig unter der Leitung von Michael Haller hat das Unterrichtsprogramm „fit for news“ entwickelt und in Kooperation mit mehreren sächsischen Schulen erprobt. Es besteht aus neun Unterrichtseinheiten für den Schulunterricht und zwei Online-Selbstlerntools zum Thema Informations- und Bildprüfung.

Die Unterrichtseinheiten sind so gestaltet, dass die Studierenden die alltagspraktische Bedeutung von Informationskompetenz verstehen und die Online-Medien informationskritisch nutzen können.

Die Einheiten sind auf die verschiedenen Schulstufen zugeschnitten; eine spezielle Version wird für die Erwachsenenbildung verwendet, z. B. Erwachsenenbildungskurse.

Das EIJK-Team erläutert die Nutzung des Programms im Rahmen der Lehrerfortbildung in den Bundesländern Mitteldeutschlands sowie in eigenen Webinaren.

Weitere Informationen: https://fitfornews.de

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