Frankfurt/Darmstadt (dpa/lhe) – Russlands Angriff auf die Ukraine hat vielfältige Auswirkungen auch auf Hessen. Die Sanktionen betreffen auch Forschungsprojekte großer Wissenschaftseinrichtungen und Kooperationen zwischen Hochschulen. Betroffen ist beispielsweise eines der derzeit größten Forschungsprojekte weltweit, der Bau des Teilchenbeschleunigers (Messe) in Darmstadt.
Die projektverantwortliche Leitung des GSI Helmholtzzentrums für Schwerionenforschung unterstützt die Sanktionen. „Diese werden einen starken Einfluss auf die eigenen Aktivitäten haben, denn Russland ist das größte Partnerland im Fair-Projekt, aber die Geschäftsführung hält die Mittel in dieser Situation für notwendig“, so das GSI Helmholzzentrum.
Mit sofortiger Wirkung wurden alle Kooperationen mit staatlichen Institutionen und Wirtschaftsunternehmen in Russland eingestellt und Dialogforen abgebrochen. Projekte mit Forschern aus Russland wurden eingefroren und werden überprüft. Die Kommunikation war gestoppt worden. „Fair möchte an dem Ziel festhalten, ab Ende 2025 erste Experimente durchzuführen und prüft derzeit, ob dies mit den bereits gelieferten Komponenten und ggf. weiteren Alternativlösungen machbar ist.“
Die Teilchenbeschleunigeranlage ist eine der weltweit größten Einrichtungen für physikalische Grundlagenforschung. Unter anderem soll damit der Ursprung des Universums erforscht werden. Die Gesamtinvestitionen liegen derzeit bei rund 3,1 Milliarden Euro. Hauptförderer des Projekts sind der Bund und das Land Hessen. Als ausländische Partner sind auch Finnland, Frankreich, Indien, Polen, Rumänien, Russland, Schweden und Slowenien Partner.
Die Sanktionen wirken sich auch auf das Kontrollzentrum der europäischen Raumfahrtagentur Esa in Darmstadt aus. Betroffen ist das europäisch-russische Weltraumprojekt „Exomars“ zur Suche nach Spuren von Leben auf dem Roten Planeten. Eine Durchführung der laufenden Kooperation mit einem Start später in diesem Jahr sei derzeit nicht möglich, teilte die Esa am Donnerstag mit. „Während die ESA die Auswirkungen auf die wissenschaftliche Erforschung des Weltraums anerkennt, unterstützt sie voll und ganz die von ihren Mitgliedsstaaten gegen Russland verhängten Sanktionen.“
Die Mission, die im September starten sollte, soll nach dem Start von den Darmstädter Spezialisten gesteuert werden. Die Esa steuert die meisten ihrer Satelliten von Darmstadt aus.
Auch die hessischen Hochschulen sind betroffen. Laut einer Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unterstützen alle hessischen Hochschulen die EU-Sanktionen. Entsprechend den Empfehlungen der Wissenschaftsorganisationen und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) wurde die Zusammenarbeit mit Russland bis auf Weiteres ausgesetzt. Studierende sollen jedoch nicht von den Sanktionen betroffen sein: Universitäten bieten Hilfe an, insbesondere für ukrainische Studierende, aber auch für russische Studierende.
Die Philipps-Universität Marburg beispielsweise hat nach eigenen Angaben neun bilaterale Partnerschaften mit russischen Universitäten, die derzeit auf Eis liegen. Wissenschaftliche Zusammenarbeit besteht nicht nur mit Russland, sondern auch mit der Ukraine. Die Universität Kassel beispielsweise hat Kooperationsvereinbarungen mit zwei ukrainischen Universitäten: in Kiew und Lemberg. Laut Pressestelle soll diese Zusammenarbeit „nach Möglichkeit“ intensiviert werden.
Neben den Auswirkungen auf die Forschung geht es den Hochschulen auch um die Folgen für die Lehre – und das Wohl der Studierenden. An der Frankfurter Goethe-Universität sind 262 ukrainische und 300 russische Studierende eingeschrieben. Die Universität Marburg hat 70 Studierende aus der Ukraine und 263 aus Russland. 61 Studierende aus der Ukraine und 102 aus Russland sind derzeit fest oder als Gast- und Austauschstudierende in Gießen immatrikuliert. An der Universität Kassel leben rund 40 Studierende oder Wissenschaftler aus der Ukraine und ebenso viele aus Russland.
An der Technischen Universität (TU) Darmstadt sind 80 Studierende aus der Ukraine und etwa 130 aus Russland eingeschrieben. Laut Pressestelle befinden sich derzeit noch zehn TU-Studierende im Rahmen von Austauschprogrammen an einer der sechs russischen Partneruniversitäten. Das Präsidium ist mit ihnen bezüglich einer möglichen Rückreise in Kontakt.
Die Universitäten versuchen, den Ukrainern zu helfen. „Die meisten versuchen derzeit, ihre Familienangehörigen nach Marburg zu holen“, berichtet die Sprecherin der Universität Marburg. „Hier wird ein Hilfsfonds eingerichtet, der eine Überbrückungsfinanzierung bis zum Start staatlicher Programme ermöglichen soll.“ Aber auch die russischen Studierenden brauchen Hilfe: „Wir bekommen immer mehr Anfragen von russischen Studierenden, die Angst haben, in finanzielle Schwierigkeiten zu geraten und/oder in Deutschland Asyl beantragen wollen.“
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