Gesundheit bleibt Mizwa | Jüdischer General

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Die Politik hat beschlossen, zahlreiche Maßnahmen, die eigentlich dazu dienen sollten, die Corona-Pandemie einzudämmen und Leben zu retten, zum Frühjahr hin schrittweise zu reduzieren. Wenn es die Lage im Gesundheitssystem wirklich zulässt, sollen bis zum 20.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ist noch zurückhaltend, versprach aber allen einen tollen Sommer. Und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte vor zwei Wochen: „Irgendwie haben wir uns das nach zwei langen Jahren verdient.“ Die FDP fordert, dass Gesundheitsschutz wieder reine Privatsache werden muss; Ihr Fraktionsvorsitzender im Bundestag, Stephan Thomae, sieht keine konkrete Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems mehr.

Es ist nicht unzumutbar, weiterhin Masken zu tragen und Abstandsregeln einzuhalten.

Damit sei das „eigentliche Primärziel der Pandemiebekämpfung“ längst erreicht, und die Menschen sollten wieder „selbst entscheiden dürfen, ob sie sich regelmäßig impfen und testen lassen wollen, ob sie die AHA-Regeln anwenden und eine Maske tragen oder nicht “.

INDIVIDUELLE VERANTWORTUNG Eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen, sich also entsprechend dem tatsächlichen Risiko vernünftig und angemessen zu verhalten, erfordert jedoch ein gewisses Maß an Risikokompetenz und Solidarität mit allen, die einer Risikogruppe angehören und weiterhin massiv gefährdet sind.

Denn Eigenverantwortung bedeutet nicht Egoismus. Allerdings scheint der für unsere Gesellschaft so wichtige und viel gepriesene Zusammenhalt in den zwei Jahren, in denen die Pandemie unser ständiger Begleiter war, etwas brüchig geworden zu sein. Laut einer Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem Jahr 2020 ist ein Drittel der Deutschen offen für Verschwörungsmythen.

Sind wir also wirklich bereit für mehr Eigenverantwortung? Haben wir die nötige Risikokompetenz, gibt es noch genug Solidarität mit den Gefährdeten? War es, so Thomae, wirklich nur das Ziel aller Maßnahmen, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, oder ging es nicht auch darum, die Gefährdeten zu schützen? Ist es eine Bedrohung für Demokratie und Freiheit, Schutz zu verlangen?

ERKRANKUNG Fest steht jedenfalls, dass wir alle die Pandemie satt haben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Virus ausgerottet und die Pandemie nicht beendet ist. Die Mehrheit der Deutschen wird sicherlich auf alle nicht mehr vorgeschriebenen Schutzmaßnahmen verzichten, und kaum jemand wird wieder auf das verzichten, was erlaubt ist.

Übervorsichtig sind wir schon lange nicht mehr, und dass wir uns an die täglich steigende Zahl der Corona-Toten „gewöhnt“ haben, zeugt auch von einer gewissen Gleichgültigkeit.

Aber Halacha verpflichtet uns, Leben zu bewahren und Leben zu retten. Es ist ausdrücklich unsere Pflicht, unsere eigene Gesundheit (pikuach nefesh), aber nicht weniger die Gesundheit unserer Mitmenschen zu schützen.

individuelle Verantwortung Die als ethisches Prinzip formulierte Mizwa „lo taamod al dam reecha“ aus dem 3. Buch Mose 19:16 macht deutlich, dass Eigenverantwortung in diesem Sinne nicht nur eine passive Haltung ist – und dass sie nicht nur für uns selbst gilt, sondern erfordert auch aktives Handeln, um das Leben anderer zu schützen.

„Lo taamod“ bedeutet: „Bleib nicht stehen“. Stehen Sie nicht still, sondern handeln und werden Sie aktiv im Blut Ihres Nächsten (»al dam reecha«), dh wenn das Leben Ihres Mitmenschen in Gefahr ist! Was wir tun müssen, um die Gefährdeten vor Corona zu schützen, ist nicht immer einfach. Aber auch in Zukunft freiwillig die Empfehlungen und Regeln zum „Social Distancing“ zu befolgen, weiterhin die Maske zu tragen und im Zweifelsfall einen Selbsttest zu machen, verlangt uns nichts Unzumutbares ab.

Um die Risiken realistisch einschätzen zu können, müssen wir uns auf die Einschätzungen der Experten verlassen. Sie ist der jüdischen Tradition keineswegs fremd, die ausdrücklich fordert, medizinische Entscheidungen nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft zu treffen. Dies sichert die für halachisch korrekte Entscheidungen notwendige Risikokompetenz.

PROGRESS In der Corona-Pandemie hat sich die Situation mehrfach geändert und ist unübersichtlich geworden. Neue ansteckende Varianten sind aufgetaucht, die Immunisierungsbereitschaft war geringer als erhofft, und es werden wahrscheinlich viel höhere Immunitätsraten als erwartet benötigt, um in Zukunft neue und gefährlichere Infektionswellen zu verhindern.

Rabbi Akiba Eger schrieb: Diejenigen, die den Empfehlungen der Ärzte nicht gehorchen, sündigen vor G’tt.

Es liegt wohl in der Natur von Pandemien und Epidemien, dass sie sich dynamisch und unübersichtlich entwickeln. Wegen der Parallelen zur heutigen Situation sei an Rabbiner Akiba Eiger aus Eisenstadt (1761-1837) erinnert. Als er Anfang des 19. Jahrhunderts als Rabbiner in Posen wirkte, waren die Menschen durch die damals grassierende zweite Cholera-Pandemie genauso verunsichert wie heute durch Covid-19.

Einschränkungen Damals traf er auf Anraten der führenden Ärzte seiner Zeit die unpopuläre Entscheidung, den Synagogenbesuch auch an den hohen Feiertagen einzuschränken, um die Ausbreitung der Cholera einzudämmen und Leben zu retten. In seinem Iggerot schrieb er: „Wer die Empfehlungen des Arztes ignoriert, sündigt schwer vor G-tt (…), besonders wenn dies zur Ausbreitung der Krankheit in der Stadt führt“ (Iggerot Rabbi Akiba Eger 73).

Anstatt wieder alles Erlaubte auszuschöpfen, sollten wir uns lieber an der Halacha orientieren. Das bedeutet, dass wir umsichtig und vernünftig entscheiden müssen, welche Maßnahmen wir in der konkreten Situation fallen lassen und welche Schutzmaßnahmen wir aus Sicherheitsgründen freiwillig beibehalten.

Um die Risiken richtig einzuschätzen, sollten wir auf die Empfehlungen der Experten des Robert-Koch-Instituts hören. Dann können wir eine Solidarität wiederentdecken, die von niemandem mehr verlangt, als für das Erreichen des Gemeinwohls und die Erfüllung der Mizwot notwendig ist.

Der Autor ist Oberarzt am Klinikum Bielefeld und Mitglied der zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer.