Berlin (dpa) – Pandemie, Lockdowns, Corona-Tote. Mit diesen Zutaten ist Ihnen oft die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sicher. Nun hat es eine Studie ins Rampenlicht geschafft – zunächst unter Umgehung wissenschaftlicher Kontrolle. Aber das ist nicht das einzig Seltsame an dem Papier.
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Die von der Regierung verhängten Maßnahmen während der Pandemie haben sich kaum oder gar nicht auf die Zahl der Menschen ausgewirkt, die im Zusammenhang mit Corona gestorben sind. Das ist das Ergebnis einer Studie von drei Ökonomen, die auf der Website des Johns Hopkins Institute for Applied Economics veröffentlicht wurde.
Auswertung
Die Studie wirft eine wichtige Frage auf, kann sie aber nicht abschließend beantworten. Experten nennen mehrere Kritikpunkte.
Fakten
Unbestritten ist, dass eine Reduzierung der Kontakte die Ausbreitung von Infektionskrankheiten wie Covid-19 verlangsamt. Dies führt auch zu weniger Todesfällen. Die Frage, ob zusätzliche staatlich verordnete Maßnahmen helfen, ist jedoch Gegenstand der Studie der drei Ökonomen, die derzeit viel mediale Aufmerksamkeit erfährt.
Was wird geprüft und was nicht?
Jonas Herby, Lars Jonung und Steve Hanke bezeichnen ihr Paper als sogenannte Meta-Studie, die die Daten aus Einzelstudien und Arbeitspapieren quasi als Übersicht zusammenfasst. Die Autoren wollten prüfen: Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass staatlich verordnete Lockdowns einen zusätzlichen Effekt auf die Covid-19-Mortalität hatten – im Vergleich zu den Maßnahmen, die die Bevölkerung ohnehin freiwillig umsetzte?
Die Studie macht daher keine Aussage darüber, ob allgemeine Maßnahmen wie Kontaktreduzierung, Maskentragen oder Handhygiene überflüssig waren. Auch Informationskampagnen der Behörden oder bereitgestellte Testkapazitäten werden nicht berücksichtigt.
Worüber kann die Studie nichts sagen?
Die Ergebnisse der Metastudie zeigen nicht, wie die staatlichen Maßnahmen im Verlauf der Pandemie und unter anderen Bedingungen – etwa der Verfügbarkeit von Impfstoffen – gewirkt haben. Denn die von ihr untersuchten Einzelstudien befassen sich nur mit der ersten Infektionswelle im Frühjahr 2020.
Was in der Studie überhaupt nicht berücksichtigt wird: „Wir schließen Studien aus, die Fälle, Krankenhausaufenthalte oder andere Parameter verwenden“, heißt es explizit. Damit lassen sich aus der Analyse keine Aussagen darüber treffen, ob staatliche Maßnahmen beispielsweise die Zahl der Corona-Infektionen oder die Zahl schwerer Erkrankungen beeinflussen. Doch die drohende Überlastung in Krankenhäusern und Pflege war für die Politik immer wieder die Rechtfertigung für sehr weitreichende Regelungen.
Welche Einzelstudien sind enthalten – und welche nicht?
Die Autoren wollen 18.590 Studien identifiziert haben, die sich potenziell mit ihrer Fragestellung befassen könnten. Allerdings kommen nur 34 Studien in Frage, von denen letztlich nur 24 in die Meta-Analyse eingeschlossen wurden – neben von Experten begutachteten Studien gab es auch Arbeitspapiere, die nicht ausgewertet wurden.
Es gebe eine Fülle von wissenschaftlich deutlich hochwertigeren Studien, „aber sie wurden nicht nach den von den Autoren gewählten Auswahlkriterien berücksichtigt“, sagte der Leiter des Instituts für Versorgungsforschung und Klinische Epidemiologie der Universität Marburg, Max Geraedts, die dpa.
Skepsis gegenüber der Meta-Analyse besteht auch, weil die Gewichtung der verwendeten Studien nicht eindeutig nachvollziehbar ist. Statistik-Professor Christoph Rothe von der Universität Mannheim etwa twitterte: „In der von Ökonomen verfassten Meta-Analyse […] Studien von Nicht-Sozialwissenschaftlern (z. B. Epidemiologie) werden automatisch als „von geringerer Qualität“ eingestuft.
Der Ökonom Andreas Backhaus analysiert, dass einige der untersuchten Einzelstudien „nicht sonderlich überzeugend“ seien. „Allerdings wurde ihnen in der Meta-Analyse ein sehr hohes Gewicht beigemessen, sodass sie das Gesamtergebnis vorantreiben“, twitterte er. Backhaus ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.
Was ist das konkrete Ergebnis der Meta-Studie?
Herby und seine Kollegen kommen in ihrem Papier zu dem Schluss, dass staatlich regulierte Maßnahmen weltweit im Vergleich zu Empfehlungen und freiwilligen Verhaltensänderungen der Bevölkerung wenig Wirkung zeigten: Bei der ersten Corona-Welle im Frühjahr 2020 zeigten die untersuchten Studien, dass die Covid -Sterberate durch vorgeschriebene Vorschriften nur um 0,2 Prozent gesenkt.
Konkret erklärt Herby: „Während der ersten Lockdown-Welle gab es in Europa und den USA insgesamt rund 300.000 Covid-19-Tote“, schreibt er auf Twitter. „Ohne Lockdowns wären es nach wissenschaftlichen Schätzungen 300.601 gewesen.“
In einem ausführlichen Artikel zur Meta-Analyse erklärt Herby, dass dies nicht zwangsläufig zu dem Schluss führe, dass Lockdowns in keinem Land der Welt wirkungslos geblieben seien. Wenn die Regierungen „den richtigen Zeitpunkt“ für ihre Maßnahmen gefunden hätten, hätten die Regeln große Auswirkungen haben können.
Die 0,2 Prozent beziehen sich auf alle staatlichen Lockdown-Maßnahmen insgesamt. Hingegen schreibt die Meta-Analyse einzelnen Regelungen bei der Zahl der Todesfälle einen deutlichen Effekt zu – etwa dem Tragen einer Maske am Arbeitsplatz oder geschlossenen Clubs und Bars.
Was versteht die Studie unter Lockdown?
Herby und Kollegen definieren Lockdown „als die Auferlegung mindestens einer obligatorischen, nicht-pharmazeutischen Intervention“. Darunter fallen staatliche Anordnungen, die Menschen direkt betreffen – etwa die Einschränkung der Bewegungsfreiheit oder das Verbot von grenzüberschreitenden Reisen.
Das Team um den Mobilitätsforscher Kai Nagel von der Technischen Universität Berlin hält den Begriff Lockdown für wenig aussagekräftig. „In Deutschland wurde darunter vor allem eine weitgehende Schließung von Freizeit, Einzelhandel und Schulen verstanden“, erklären die Experten. Andererseits wurde in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern nur wenig in den Arbeitsmarkt eingegriffen.
Besonders problematisch ist, dass sich die Meta-Analyse auf den „Government Stringency Index“ der Universität Oxford bezieht. „Die Studien des Stringency Index zeigen, dass Lockdowns in Europa und den Vereinigten Staaten die Sterblichkeit durch Covid-19 nur um durchschnittlich 0,2 Prozent reduziert haben“, schreiben die Autoren.
Doch dieser Index hat einen massiven Nachteil. Denn er achtet immer nur auf die strengsten Maßnahmen, die egal auf welcher Verwaltungsebene in einem Land gelten. Beispiel Deutschland: Wenn Bundesländer oder auch einzelne Landkreise vorübergehend strengere Regeln haben, als bundesweit vorgesehen sind, behandelt der Stringenz-Index dies so, als würden die Maßnahmen bundesweit gelten.
„Dieser Index kann die tatsächliche Effizienz verschiedener ergriffener Maßnahmen nicht objektiv bewerten“, sagen Nagel und Kollegen. Der Marburger Epidemiologe Geraedts findet „besonders problematisch“, dass unklar sei, inwieweit diese staatlichen Maßnahmen „in den verschiedenen betrachteten Ländern tatsächlich durchgesetzt wurden“.
Wie wird die Arbeit in Fachgruppen bewertet?
Die Berliner Mobilitätsforscher um Nagel sehen in der Studie von Herby und Kollegen „erste Schritte“, um die Wirkung behördlicher Anordnungen besser zu verstehen, wie sie auf dpa-Anfrage schreiben. Allerdings weist das Team darauf hin, dass die deutsche Bevölkerung bereits während der ersten Corona-Welle „bevor die formellen Beschränkungen begannen“ ihre Mobilität eingeschränkt hatte – und dass die Menschen wieder unterwegs waren, bevor die Politik die formellen Beschränkungen offiziell beendete. Eine Reaktion der Bevölkerung hängt von den vorgegebenen Regeln ab.
Eine Schwierigkeit – auch in dieser Meta-Analyse – besteht daher darin, herauszuarbeiten, welchen Anteil staatliche Regulierungen am tatsächlichen Verhalten der Menschen haben.
Geraedts weist auch darauf hin, dass die Bevölkerungen in den verschiedenen Ländern ihr Verhalten bereits ohne Zwangsmaßnahmen an die Pandemie angepasst haben. Er wirft den Autoren vor, mit einer „eklektischen Zusammenstellung von Literatur“ bewusst versucht zu haben, die von ihnen gewünschte Aussage zu belegen.
Wer steckt eigentlich hinter der Studie?
Die Autoren sind keine Epidemiologen, Virologen oder andere Mediziner. Steve Hanke ist Professor für Angewandte Wirtschaftswissenschaften an der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland. Das Papier der drei wurde Ende Januar auf seinem Uni-Server veröffentlicht. In einer Anzeige für die Studie schrieb er damals auf Twitter: „Lockdowns sind für Verlierer.“ Zudem ist er in der Vergangenheit dadurch aufgefallen, dass er staatliche Corona-Maßnahmen etwa in Italien oder Deutschland öffentlich als „faschistisch“ bezeichnet hat.
Hanke ist außerdem leitender Wissenschaftler am Cato Institute, einer US-amerikanischen Denkfabrik für Wirtschaftspolitik, die behauptet, „libertäre Prinzipien“ zu haben, die staatlicher Einflussnahme auf Wirtschaft und Gesellschaft entgegenstehen.
Jonas Herby ist Berater der politisch-libertären Denkfabrik Cepos in Kopenhagen. Seine Schwerpunkte liegen nach eigenen Angaben in den Bereichen Recht und Wirtschaft. Der dritte Autor ist Lars Jonung, ein pensionierter Wirtschaftsprofessor, der an der Universität Lund in Schweden gelehrt hat.
Warum ist der Weg der Veröffentlichung seltsam?
Die Studie wurde Ende Januar nicht in einem Peer-Review-Journal veröffentlicht, sondern auf der Website eines der Wirtschaftsinstitute der Johns-Hopkins-Universität. „Der gute Ruf der Johns Hopkins University wurde genutzt, um diesem Working Paper ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit zu verleihen“, erklärt Experte Geraedts aus Marburg.
„Die Publikationsreihe bietet Studierenden, Mitarbeitern und ehemaligen Angehörigen dieses Instituts die Möglichkeit, ihre Arbeiten zur Diskussion zu stellen“, sagt Geraedts. Qualitätskriterien, die Arbeitspapiere erfüllen müssen, sind auf der Website des Instituts nicht angegeben.
Die Ergebnisse von Herby und Co. wurden daher vor der Veröffentlichung nicht in einem nachvollziehbaren Testverfahren überprüft. „Auf diese Weise vermeiden die Autoren Peer-Review, eine der wichtigsten Qualitätssicherungsmaßnahmen in der Wissenschaft“, sagt der Virologe Friedemann Weber von der Universität Gießen. „Studien im Selbstverlag zu veröffentlichen ist absolut unüblich und unwissenschaftlich.“ Geraedts wirft den Autoren zudem vor, „bewusst nicht den Weg gewählt zu haben“, ihre Methodik und die daraus gewonnenen Ergebnisse und Interpretationen von unabhängigen Wissenschaftlern überprüfen zu lassen.
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