Interview mit einem Ernährungsexperten: Warum wir uns davor fürchten, Insekten zu essen – Gesundheit & Leben

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Interview mit einem Ernährungsexperten: Warum wir uns davor fürchten, Insekten zu essen – Gesundheit & Leben

„Geschmack ist kulturell erlernt“

Naja, aber das Paläolithikum ist lange her und kaum jemand fängt mehr größere Tiere…

Hirschfelder: Das ist natürlich nur die Entwicklung über einen längeren Zeitraum, aber relativ kurzfristig gibt es auch die „Ekel-Barriere“: Geschmack ist kulturell erlernt und emotional aufgeladen. Im Laufe unserer Sozialisation lernen wir, uns vor bestimmten Dingen zu ekeln und sie als unangenehm zu empfinden.

Neben Insekten sehen wir dies in Europa vor allem bei Hunden, Katzen und Pferden. Hunde wurden hier sehr lange gegessen und werden in anderen Ländern immer noch gegessen, nur hat dieses Tier für uns hier im Westen jetzt eine andere emotionale Bedeutung als früher – aber das wird ausschließlich anerzogen.

Bedeutet das, dass heute die emotionale Komponente beim Essen die wichtigste Rolle spielt?

Hirschfelder: Exakt. Was wir essen, bauen wir buchstäblich in unseren Körper ein – und revolutionieren können wir uns kaum selbst, weil wir Lebensmittel oft als emotionalen Anker brauchen. Ich habe hier gerade ein Schinkenbrot, ein toller Snack für mich an einem stressigen Tag, aber auf Insekten hätte ich heute keine Lust…

Das kann ich nachvollziehen, mir graut es immer noch ein bisschen, wenn ich daran denke, Insekten zu essen.

Hirschfelder: Das ist verständlich, denn in Europa werden Insekten auch mit Erzählungen, also mit Themenbereichen, in Verbindung gebracht: Schon in der Kindheit lernen wir, dass sie irgendwie unheimlich und auch ekelhaft sind. Würden wir Insekten früher als Lebensmittel kennenlernen, wäre die Hemmschwelle vermutlich nicht so hoch.

„Chancen für Insekten als Futtermittel“

Gibt es konkrete Vorteile, die der Verzehr von Insekten auch den Menschen hier im „Westen“ bieten würde?

Hirschfelder: Das liegt auf der Hand – Insekten sind einfach effizienter zu produzieren als unsere üblichen Zuchttiere. Bei den für den Nahrungskreislauf bestimmten Insekten, die beispielsweise an einer Universität in den Niederlanden gezüchtet werden, braucht man etwa zwei Kilogramm Getreide oder vergleichbare Futtermittel, um ein Kilogramm Insektenfleisch zu produzieren – das ist ein weitaus besserer Schnitt als bei uns Schweine, Kühe oder gehen Sie selbst angeln.

Langfristig sehe ich aber Chancen, dass Insektenzüchtungen zum Beispiel als Futtermittel für Geflügel oder Fische genutzt werden. Abgesehen davon werden Insekten in Form von Burgerpatties oder ähnlichem wohl ein interessantes „Gimmick“ oder Eventfood bleiben, denke ich.

„Wir leben hier in einer gewachsenen Kulturlandschaft“

Aber es gibt mittlerweile Experten, die sagen, dass der klimaschädliche CO2-Ausstoß unserer Fleischproduktion deutlich reduziert werden könnte, wenn wir uns in Europa alle ein Herz fassen und mehr Insekten essen würden. Würdest du zustimmen?

Hirschfelder: Im Konjunktiv würde ich definitiv zustimmen! Aber wir leben nicht im Konjunktiv, wir leben in der Realität: In einer Demokratie kann jeder essen, was er will, und wir leben auch hier in Deutschland in einer gewachsenen Kulturlandschaft. Das heißt, unser System ist fein austariert zwischen Ackerbau, Gemüseanbau und Viehzucht – und es gibt einfach keine gesetzliche Grundlage, Fleisch aus der Gleichung auszuschließen. Aber wir werden es sicherlich reduzieren und auch in den nächsten Jahrzehnten eine andere Politik sehen.

Nun ja, aber basiert die Umstellung der Produktion nicht in erster Linie auf dem Kaufverhalten der Verbraucher?

Hirschfelder: Prinzipiell ja – aber beim Thema Fleisch sehen wir sehr deutlich, dass zwar darüber geredet wird, aber letztendlich nichts getan wird. Wenn man sich heute durchs Internet klickt, hat man den Eindruck, dass niemand mehr Fleisch isst und alle vegan geworden sind – doch die tatsächlichen Konsumzahlen sehen anders aus: Der Fleischkonsum pro Kopf und Jahr in Deutschland ist im Vergleich zu den letzten drei Jahren gerade mal gesunken 61 auf rund 58 Kilo, was allerdings auch auf den reduzierten Außer-Haus-Verzehr in Restaurants zurückzuführen ist.

„Essen ist emotional aufgeladen und kulturell verankert“

Sie sehen also nicht wirklich die Chance, dass ich mit meinen Insekten zum Trendsetter werde?

Hirschfelder: Wahrscheinlich nicht, nein. Dafür ist Essen viel zu emotional aufgeladen und kulturell verankert. Unser Essverhalten ist eng mit unserer kulturellen Tradition verknüpft und voller Vorstellungen und Werte, die eigentlich überholt sind. Das macht es fast unmöglich, dieses Essverhalten grundlegend zu revolutionieren. Sicherlich gibt es urbane, aufgeschlossene Gesellschaftsschichten, die so etwas eine Zeit lang machen könnten – aber für die Masse der Bevölkerung sehe ich das überhaupt nicht, es fehlt einfach generell die Bereitschaft zur Veränderung.