Klage gegen Demo-Verbote: Warnschuss für das Bundesverfassungsgericht

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Klage gegen Demo-Verbote: Warnschuss für das Bundesverfassungsgericht

Können Demonstrationen für den Infektionsschutz verboten werden? In den vergangenen zwei Jahren wurde in Deutschland viel über die Einschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit (Artikel 8 GG) diskutiert. Ein generelles Versammlungsverbot wurde hierzulande nicht ausgesprochen. Das Infektionsschutzgesetz (IfGS) und die Corona-Verordnungen ermöglichten es dennoch, oft kritische Veranstaltungen und Versammlungen zu untersagen.

Wurden Demo-Verbote in Deutschland ausreichend begründet?

Einige von zahlreichen Beispielen: In Rostock wurde Anfang des Jahres eine Demonstration gegen Corona-Maßnahmen offiziell untersagt, mit der Begründung, Teilnehmer früherer Protestmärsche in der Hansestadt hätten sich nicht an die Maskenpflicht gehalten, was wiederum zu Streitigkeiten geführt habe mit der Polizei. Ebenfalls im Januar erließ die Stadt Freiburg ein generelles Verbot von unangemeldeten Corona-Spaziergängen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Eilverfahren einen Antrag auf Aufhebung der einstweiligen Verfügung abgewiesen.

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Auch Verbote von Großdemonstrationen mit Tausenden angemeldeten Teilnehmern in Großstädten wie Berlin und Stuttgart wurden immer wieder diskutiert. Die Veranstaltungen, die einer erheblichen Vorbereitung und Planung bedurften, wurden jeweils kurz vor dem geplanten Termin von der Polizei unter Hinweis auf frühere Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz verboten. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrere Eilanträge gegen Verbote von Großdemonstrationen abgelehnt. In Berlin eine vom Veranstalter im Hygienekonzept vorgestellte Strategie, mit der auch Maßnahmenverweigerer zum Tragen der Maske animiert werden sollen und mit der schriftlichen Zusicherung, dass Abstände und Maskenpflicht mit einer ausreichenden Menge kontrolliert werden sollen Anzahl von Ordnern, wurde vom Verwaltungsgericht als „Lippenbekenntnis“ zurückgewiesen. Das Verbot blieb.

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Verbote aus Deutschland könnten vor dem EGMR landen

Solche Entscheidungen könnten nun durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 15. März auf den Prüfstand gestellt werden. Der Dachverband der Genfer Gewerkschaften „Communauté genevoise d’action syndicale“ hatte die Schweiz in Straßburg verklagt, weil sie dies getan hatte 2020 aus Gründen des Infektionsschutzes zweieinhalb Monate lang keine öffentlichen Kundgebungen durchführen können. Die zugrunde liegende Regelung war illegal und radikal. Diese Kritik teilte nun Europas höchster Menschenrechtsgerichtshof.

Die Straßburger Richter erkennen in ihrem Urteil ausdrücklich an, dass die restriktiven Regelungen der Corona-Bekämpfung dienten. Einschränkungen des Versammlungsrechts sind in einer solchen Situation grundsätzlich zulässig. Der EGMR kommt jedoch zum Schluss, dass der Schweizerische Bundesrat diesen Spielraum zu weitgehend genutzt hat, zumal die in Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ein zentrales Gut in einer Demokratie ist.

Konkret bemängelten die Richter, dass es einer gerichtlichen Überprüfung der Verbote durch das Bundesgericht – das höchste Gericht der Schweiz – bedürfe. Außerdem waren die Strafen zu hart. Verstösse gegen das Demonstrationsverbot hätten in der Schweiz mit bis zu drei Jahren Gefängnis geahndet werden können.

„Das Argument ‚Die tragen sowieso keine Masken‘ reicht nicht aus“

Der Nordkurier sprach mit dem Augsburger Staats- und Rechtsmediziner Josef Franz Lindner über das Urteil des höchsten europäischen Menschenrechtsgerichtshofs und seine Bedeutung für die Rechtsprechung in Deutschland.

Herr Prof. Lindner, wie relevant ist die Entscheidung aus Straßburg für hierzulande getroffene Entscheidungen zu Demonstrationsverboten und eingeschränkten Versammlungsrechten in der Corona-Zeit?

„Das Urteil ist sehr wichtig, weil der EGMR die zentrale Bedeutung der Versammlungsfreiheit gerade in Zeiten einer Pandemie betont. Und sagen Sie nicht: In dieser Ausnahmesituation ist die Demonstrationsfreiheit nicht so wichtig, wir können sie leicht einschränken. Andererseits. Der EGMR stellt fest: Auch in dieser Ausnahmesituation ist das Versammlungsrecht wichtig und eine pauschale Einschränkung unzulässig. Einschränkungen sind nur unter sehr strengen Begründungserfordernissen zulässig.“

Inwiefern gilt diese Entscheidung auch für Deutschland?

„Die EGMR-Entscheidung lässt sich nicht eins zu eins übertragen, da es in Deutschland – anders als in der Schweiz – kein generelles Versammlungsverbot gab. Allerdings lässt sich übertragen, dass der EGMR der Versammlungsfreiheit einen hohen Stellenwert beimisst – und daher sehr hohe Ansprüche an die Begründung, an Prognosen und Plausibilität stellt, was dann im Einzelfall zu einem Versammlungsverbot führen kann. Denkbar ist, dass der EGMR auch Entscheidungen in Deutschland mit der Begründung beanstandet, diese seien zu pauschal. Zum Beispiel ein Versammlungsverbot, weil davon ausgegangen wurde, dass eine bestimmte Gruppe ohnehin keine Masken tragen würde.“

Insbesondere Großdemonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen wurden mehrfach unter Berufung auf frühere massenhafte Verstöße gegen Auflagen wie Maskenpflicht und Abstandsregeln verboten. Wie bewertest du das?

„Das hängt davon ab, ob diese Prognose aus tatsächlichen Gründen zuverlässig war. Was vor dem Hintergrund der EGMR-Entscheidung nicht funktioniert, ist, dass Versammlungen – auch wenn sie von Personen angemeldet werden, die einer bestimmten Szene zugeordnet sind – pauschal verboten sind. Denn es wird davon ausgegangen, dass die Teilnehmer des Treffens sowieso keine Masken tragen.“

Entsprechend wurde dies aber in einigen gerichtlich bestätigten Verbotsgründen argumentiert.

„Eine solche Argumentation ist nur zulässig, wenn dem Staat konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen. Nur zu sagen: ‚Die machen das sowieso nicht‘ – das reicht für das hohe Maß an Versammlungsfreiheit nicht aus. Es muss sachliche Plausibilität bestehen, was ist.“ im Versammlungsrecht als „konkrete Drohung“ bezeichnet. Wenn es so war, dass von demselben Antragsteller oder Veranstalter in der Vergangenheit keine Masken getragen wurden, kann die Behörde mit einer gewissen Plausibilität sagen: Das wird wohl so sein Zeit auch.“

Und wenn der Bewerber verspricht, diesmal mehr auf die Einhaltung der Auflagen zu achten?

„Wenn der Veranstalter sagt: Diesmal werden wir Masken tragen und andere Auflagen einhalten, dafür haben wir folgendes Konzept, wir werden diesmal streng darauf achten und Kontrollen durchführen und so weiter – dann muss die Versammlungsbehörde das übernehmen Man kann nicht einfach sagen: ‚Das kann jeder sagen, und dann tust du es nicht.‘ Für eine Untersagung müssten der Behörde konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Auflagen bei der anstehenden Versammlung nicht erfüllt werden, diese können auch aus vergangenen Verhaltensweisen abgeleitet werden, müssen aber jedes Mal aufs Neue vor dem Hintergrund der aktuellen Situation geprüft werden. ”

Das Bundesverfassungsgericht hat in der Pandemie wiederholt Eilanträge auf ein Verbot von Demonstrationen abgelehnt. Hat es Ihrer Meinung nach die strengen Begründungserfordernisse missachtet, die der Europäische Gerichtshof im Schweizer Urteil zugrunde gelegt hat?

„Man kann einiges an der Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts kritisieren, insbesondere im Hinblick auf die Notbremsentscheidung des Bundes, die dem Staat meiner Meinung nach zu viele Beurteilungsspielräume und damit Einschränkungen einräumt. Aber was die Versammlungsfreiheit betrifft, war das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich immer streng. Sie hat immer betont, dass Verbote nur in Ausnahmefällen funktionieren. Während der Pandemie wurden bisher jedoch meist Eilentscheidungen getroffen, bei denen sich die Versammlungsfreiheit zeitweise nicht durchsetzen konnte. Ob und wie es im Hauptsacheverfahren zu einer Entscheidung kommen wird, bleibt abzuwarten. Generell würde ich nicht sagen, dass das Bundesverfassungsgericht die Bedeutung der Versammlungsfreiheit falsch eingeschätzt oder unterschätzt hat.“

Können Veranstalter, die in der Vergangenheit Versammlungen in Deutschland verboten haben, nun zumindest auf ein rückwirkendes Recht oder gar eine Entschädigung hoffen?

„Es ist gut möglich, dass der EGMR auch in Deutschland eine Entscheidung mit der Begründung aufhebt, dass sie zu pauschal sei. Der EGMR könnte auch Schadensersatz zusprechen. Die Chancen auf eine Beschwerde sind vom Einzelfall abhängig. Sicher ist, dass die Konventionsstaaten sind gezwungen, die Europäische Menschenrechtskonvention einzuhalten, und auch das Bundesverfassungsgericht muss dies berücksichtigen.“

Wie wahrscheinlich ist es, dass Organisatoren aus Deutschland vor den EGMR ziehen – und Recht behalten?

Um eine Individualbeschwerde beim EGMR einreichen zu können, müsste ein Veranstalter zunächst die Verwaltungsgerichte in Deutschland ausschöpfen und in allen Instanzen verlieren. Dann müsste er Verfassungsbeschwerde einreichen. Wird diese abgelehnt, sind die Voraussetzungen für eine Individualbeschwerde beim EGMR erfüllt. Dann kann die Situation eintreten, dass der EGMR Art. 11 – also die Versammlungsfreiheit der Menschenrechtskonvention – strenger anwendet, als das Bundesverfassungsgericht Art. 8 GG und dessen Entscheidung beanstandet.“

Welchen Einfluss auf die deutsche Rechtsprechung lässt sich dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Allgemeinen zuschreiben?

„Bei der Auslegung des Grundgesetzes sind die deutschen Behörden und die deutschen Gerichte auch an die EMRK und ihre Auslegung durch den EGMR gebunden. Kein Gericht darf hinter den Anforderungen des EGMR zurückbleiben. Die Gerichte und Behörden der Bundesrepublik können im konkreten Fall nicht einfach sagen: ‚Das interessiert uns nicht, das betrifft nur die Schweiz.‘ Man muss lediglich zur Kenntnis nehmen, dass die EMRK pauschale und allgemeine Versammlungsverbote grundsätzlich nicht zulässt. Das gilt auch für Deutschland.“