Auch wenn die Vorstellungen im Gewandhaus zu Leipzig seit dem 17. Januar 2022 wieder aufgenommen werden können, bleiben die Audiostreams eingeschaltet www.gewandhausorchester.de fortgesetzt. Nicht alle interessierten Konzertgäste können oder wollen ins Gewandhaus kommen; sei es, weil der Platz begrenzt ist oder weil sich Gäste in größeren Menschengruppen zurückhaltend bewegen. Es gibt also nach wie vor gute Gründe, neu produzierte Musik mit dem Audiostream unter die Leute zu bringen.
Der vorerst letzte Stream der Reihe ist eine Aufnahme des Gewandhaus-Bläserquintetts, das angeblich 1896 gegründet wurde und – wenn die Quellen stimmen – im vergangenen Jahr seinen 125. Geburtstag feierte.
Anonym (ehemals Joseph Haydn (1732-1809) zugeschrieben)
Divertimento in B-Dur Hob. II:46 (»Feldspiel St. Antonius«)
2. Andante quasi Allegretto. Choral St. Antoni
Theodor Blumer (1881-1964)
Quintett für Blasinstrumente op. 52
1. Sehr frisch und feurig
August Klughardt (1847-1902)
Quintett für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott C-Dur op. 79
2. Allegro vivace
Das Gewandhaus-Bläserquintett ist eines der ältesten Ensembles seiner Art. Seit seiner Gründung vereint es stets 5 Solo-Bläser des Gewandhausorchesters, tritt in der Kammermusikreihe des Gewandhauses auf und produziert regelmäßig Aufnahmen. Die bisher älteste Aufnahme mit Gewandhausmusikern stammt vom Gewandhaus-Bläserquintett.
Die Bläserkammermusik erlebte im späten 19. Jahrhundert eine Blütezeit. So entstehen Werke wie das Quintett von August Klughardt, von dem der 2. Satz im Stream zu hören ist. Vermutlich hat Klughardt das Stück sogar für die Bläser des Gewandhausorchesters geschrieben. Am Leipziger Konservatorium werden Bläserklassen eingerichtet und immer wieder die Gewandhausbläser genannt – darunter herausragende Musiker wie der Flötist Maximilian Schwedler, der Fagottist Julius Weissenborn, der Hornist Gumpert und der Oboist Alfred Gleißberg, die auch in diversen Kammermusiken auftreten Konstellationen.
Die Gründung des 1. Gewandhaus-Bläserquintetts rund um den Oboisten Gleißberg im Jahr 1920 wird greifbar. Es erscheint erstmals vor dem Gewandhaus (November 1920). Bereits ein halbes Jahr später (Februar 1921) entstand eine zweite Formation: der Gewandhaus-Bläserverband um den Flötisten Carl Bartuzat. Der Fagottist in diesem Ensemble, Günter Weigelt, arrangiert Musik für Quintette, und Komponisten widmen ihm neue Werke. Beide Quintette reisen, geben Uraufführungen und sind im Radio zu hören. 1924 kam das Gewandhaus-Kammermusikpublikum erstmals in den Genuss eines Quintettabends.
In den 1930er Jahren löste sich das 1. Gewandhaus-Bläserquintett auf und der Gewandhaus-Bläserverband übernahm seinen Namen, unter dem es bis heute – also seit über 100 Jahren – weiterbesteht.
Ob das Gewandhaus-Bläserquintett vor 125 Jahren gegründet wurde, lässt sich allerdings nicht mit Sicherheit sagen. Als der Oboist Gleißberg 1963 starb, lesen wir zum ersten Mal, dass er das Ensemble 1896 gegründet hat – er selbst hat das nie behauptet, und es gibt auch keine anderen Beweise.
Die Werke im Stream
Eines der prominentesten Werke Joseph Haydns stammt nicht von ihm. Und die berühmteste Melodie darin noch weniger. Denn wer auch immer das Divertimento in B-Dur komponiert hat, das Anthony van Hoboken als II:46 in Joseph Haydns Werkverzeichnis aufgenommen hat, hat für den berühmten zweiten Satz „Chorale Sancti Antonii“ auf eine bereits vorhandene Vorlage zurückgegriffen. Johannes Brahms festigte den zweifelhaften Ruhm des Stücks, indem er es als Grundlage für seine „Variationen über ein Thema von Haydn op. 56“ verwendete. Die vier Sätze waren für jeweils zwei Oboen, Hörner und Fagotte mit verstärkendem Bassinstrument vorgesehen – eine Formation, die vor der Erfindung des Bläserquintetts weit verbreitet war. Glücklicherweise war der Komponist (Haydns Schüler Ignatz Pleyel?) ein solider Künstler: Dass ein Kenner wie Brahms das Werk für einen „echten Haydn“ halten konnte, spricht für sein Können.
Die Komponisten, Pianisten und Dirigenten Theodor Blumer und August Klughardt, Schöpfer mehrerer Opern und großer Orchesterwerke, denen zu Lebzeiten viel Beachtung geschenkt wurde, hätten sich nie träumen lassen, dass die Quintette für Blasinstrumente eines Tages zu ihren bekanntesten werden würden – um nicht zu sagen nur halbwegs bekannt – sollte funktionieren. Der Korrepetitor und Dirigent Theodor Blumer, der für den Rundfunk Dresden und den Leipziger Rundfunk und deren Ensembles arbeitete und unter anderem bei Felix Draeseke studiert hatte, verband eine enge musikalische Partnerschaft mit dem Bläserquintett des Königlichen Musikorchesters Dresden. Er förderte dieses Ensemble nicht nur als Pianist, sondern widmete ihm auch einen großen Teil seiner Kammermusik für Blasinstrumente. Das Quintett op. 52 erschien bei einem weiteren wichtigen Mitarbeiter Blumers, dem Leipziger Verleger Wilhelm Zimmermann, mit der Widmung an die »Erste Bläsergruppe der Dresdner Staatsoper«. Die humorvolle Komposition, die ein wenig nach »Richard Strauss en Miniature« klingt, fand sich schon früh in den Konzertprogrammen der Leipziger Bläservereine wieder, etwa als das Gewandhaus-Bläserquintett um den Oboisten und potentiellen Gründervater Alfred Gleißberg Gewandhaus-Kammermusik aufführte erstmals am 16. Dezember 1924. Das Bläserquintett op. 79 von August Klughardt, der als Dirigent in Weimar, Neustrelitz und Dessau wirkte, ist noch tiefer in der Geschichte des Ensembles verwurzelt. Die hervorragenden Instrumentalisten der Weimarer Hofkapelle dürften Klughardts Vorliebe für Bläserkammermusik begründet haben. Der Liszt- und Wagner-Jünger trat regelmäßig mit einem Quintett der Neustrelitzer Hofkapelle auf, und Klughardt wirkte auch kammermusikalisch im Gewandhaus mit, so dass spekuliert wurde, dass sein um 1898 komponiertes Quintett mit der Frühgeschichte der Gewandhausbläser in Verbindung gebracht werden könnte Kammermusik. Auffällig ist jedenfalls, dass Klughardts Quintett am 8. November 1920 rund um Gleißberg eine der ersten greifbaren Aufführungen des Gewandhaus-Bläserquintetts eröffnete und 1923 für die erste Tonaufnahme des konkurrierenden Gewandhaus-Bläserquintetts um den Flötisten Carl Bartuzat ausgewählt wurde .