Berlin (dpa) – Die Spuren des Zweiten Weltkriegs prägen Familien heute über Generationen. Viele sogenannte Kriegsenkel, geboren in den 1960er und 1970er Jahren, verarbeiten die Traumata ihrer Eltern durch Nationalsozialismus, Krieg, Holocaust und auch ihre eigenen seelischen Narben.
In der deutschen Literatur hingegen war das Schreiben über die Flucht und Vertreibung von rund 14 Millionen Deutschen nach 1945 lange Zeit ein Tabuthema. Es ist nicht mehr. Dass eine Autorin jedoch den 550 Kilometer langen Fluchtweg verfolgt, den ihr Vater Anfang 1945 im Alter von neun Jahren aus dem ehemaligen Schlesien nach Westen ging, ist ungewöhnlich.
Christiane Hoffmann, erste stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung und ehemalige „Spiegel“-Autorin, hat sich auf den Weg gemacht. Im Januar 2020 startete Hoffmann, wie ihr Vater 75 Jahre zuvor, in seinem Heimatdorf Rosenthal, dem heutigen Różyna in Polen. Sie ist die 550 Kilometer alleine bis fast nach Bayern gewandert. Entstanden ist das berührend poetische und sehr persönliche Buch «Alles, was wir nicht erinnern».
„Der Matrosenanzug, die Russen, die Oder, die Pferde“ sind die Erinnerungsfetzen seines Vaters an die Flucht vor der herannahenden Roten Armee. Sein Matrosenanzug, dessen Oberteil in Rosenthal vor der Flucht vergessen wurde, wird zum Symbol des Verlassens der Heimat. Doch an die Flucht kann sich der Vater später kaum erinnern. „Jetzt werde ich mich an deiner Stelle erinnern“, schreibt Hoffmann.
Das ehemalige Rosenthal existiert noch, mit den im Vorkriegszustand erhaltenen Häusern von einst, vier Autostunden von Berlin entfernt. Es gibt sogar einen Wikipedia-Eintrag zu Różyna. Die Familie Hoffmann reiste mehrmals in die Vergangenheit, sie saßen am Küchentisch in dem Haus, das einst ihr Großvater gebaut hatte und in dem heute auch Enkelkinder leben – Nachkommen von Polen, die aus dem weiteren Osten nach Rosenthal zwangsumgesiedelt wurden. Die Familie freundete sich mit den jetzigen Eigentümern an.
Hoffmann verwebt die Flucht ihres inzwischen verstorbenen Vaters mit ihrer eigenen Wanderung, dem Weg, der sie durch die drei EU-Staaten Polen, Tschechien und Deutschland ins Herz des heutigen Europas führt. Sie kümmert sich nicht um Heimweh-Tourismus, sondern lenkt den Blick auf die oft schwierigen Beziehungen zwischen den Ländern und Deutschland und der Europäischen Union. „Wir Deutsche kennen kein anderes großes Land in der EU so gut wie Polen, obwohl die historischen Verbindungen so viel enger sind als etwa mit Spanien.“ Sie wollten kein nostalgisches Buch schreiben, sagt Hoffmann. „Ich wollte einen Blick auf die heutige polnische Gesellschaft werfen und das Schicksal meines Vaters als ein europäisches Schicksal beschreiben, nicht nur als ein deutsches.“
Doch wie viele andere Kriegsenkel ist auch Hoffmann auf der Suche nach dem „dunklen Geheimnis“ ihrer Familiengeschichte. Ihre eigene Kindheit beschreibt sie als sumpfiges Moor. Ihre Wanderung wird zu einer Art Buße, „um den Schmerz zu spüren, der in meiner Kindheit verschwiegen wurde (…)“, schreibt sie. Und: „Schuld ist immer ein Thema, man kann nicht von Rosenthal erzählen, ohne von Auschwitz zu erzählen, das 180 Kilometer entfernt ist.“
60 Prozent der deutschen Kriegskinder seien traumatisiert, sagt die Therapeutin Ingrid Meyer-Legrand („Die Macht der Kriegsenkel“). Auch den Kriegsenkeln ist es nicht möglich, die Fluchterfahrung ihrer Eltern zu beenden. „Das kannst du nicht. Nicht bevor Sie darüber nachgedacht haben. Erfahrungen begleiten uns weiter.»
Entsprechend viel Literatur gibt es zu diesem Thema. Die Journalistin Sabine Bode etwa hat sich in ihren Büchern mit den Spuren auseinandergesetzt, die der Zweite Weltkrieg in Familien und insbesondere in der Babyboomer-Generation hinterlassen hat. Es gebe mehr als 400 Veröffentlichungen zum Thema, sagt Bode. «Aber es bricht nicht ab. Jetzt melden sich schon die Kinder der Nachkriegskinder.“ „Eine ordentliche Portion“ Kriegserfahrung werde ihrer Erfahrung nach in Familien nur sehr selten weitergegeben. „Es schwankt zwischen Überwältigung und absoluter Stille. Und beides ist nicht gut. Weil die Kinder das Gefühl haben, dass die Welt nicht sicher ist.“
Hoffmann beschreibt auch eine unsichere Welt – sie war ein ängstliches Kind, fürchtete den „Drachen“ des Krieges, später zog sie alle fünf Jahre an einen anderen Ort. Aber sie will sich von den Fesseln der Vergangenheit befreien, aus dem „verdammten zwanzigsten Jahrhundert“ laufen. Und doch holt sie als neu ernannte stellvertretende Regierungssprecherin erneut die Kriegsgefahr ein: Zum hitzigen Russland-Ukraine-Konflikt muss sie sich sofort äußern.
Nach 1945 habe sich die deutsche Literatur noch auf die „Aufarbeitung schuldhafter Verstrickungen“ konzentriert, aber nach 1989 „änderte sich etwas sehr drastisch“, sagt Carsten Gansel, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Gießen. Flucht- und Vertreibungsgeschichten tauchten auf. Autoren wie Tanja Dückers, Marcel Beyer und Jenny Erpenbeck gehörten bereits zu einer Enkelgeneration mit dem Status der „Erinnerung“, so Gansel in einem wissenschaftlichen Aufsatz.
Diese Generation werde eher „die Deutschen als Täter wahrnehmen – die sie in erster Linie waren – und als Opfer – die sie auch geworden sind“. Polen und der Osten üben, so Gansel, bei ihren Erkundungen eine geradezu magische Anziehungskraft auf die Protagonisten aus. Der Journalist Bode sieht diese Entwicklung positiv: „Die Kriegsenkelforschung in Polen, das ist wirklich gelebte EU-Erweiterung.“
Christiane Hoffmann: Alles, woran wir uns nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters, 279 S., CHBeck, ISBN 978-3-406-78493-4, 22 Euro, erscheint am 17. Februar 2022.
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