Verständnis für Putin? Wie irreführend die Verteidigung der russischen Politik ist

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BerlinEine Leserin schreibt, trotz des Krieges in der Ukraine gebe es immer noch Menschen um sie herum, die „viel Verständnis für Putin zeigen“. Es gebe Menschen im Osten, die sich nach der Wiedervereinigung „erfolgreich im neuen Leben im Westen etabliert haben“. Sie wundert sich über ihre Haltung.

Ja, solche Reflexe erkenne ich auch ab und zu bei mir. Hier geht es weniger um Putin als vielmehr um Russland. Als Ostdeutscher haben Sie selbst gesehen, dass sich die Sieger im Westen wenig um die Gefühle ihrer einst mächtigen Gegner kümmerten. Alles begann damit, dass „die Russen“ 1994 nicht an der alliierten Abschiedsparade in Berlin teilnehmen durften, obwohl sie im Zweiten Weltkrieg die größten Opfer gebracht hatten. Im Westen wurde munter Geopolitik betrieben, während Russland wie US-Präsident Obama 2014 als unbedeutende Regionalmacht in den Archiven der Geschichte abgelegt wurde. Das kann natürlich demütigend sein. Trotzdem ist es kein Grund, Sympathie für Putin zu zeigen.

Das Zentrum der neuen Welt

Ich selbst habe die ehemalige Sowjetunion lange verteidigt. Russen gehören zu meinen Freunden. Viele Menschen um mich herum haben mich beeinflusst. Einschließlich meiner Patentante. Sie wurde 1936 von den Nazis verhaftet und jahrelang in Zuchthaus und Konzentrationslager gesteckt, weil sie Militärspionage für den illegalen KPD-Apparat in Hamburg betrieben hatte. Die Berichte gingen direkt nach Moskau. In den Augen der deutschen Kommunisten war das der Mittelpunkt der neuen Welt, die Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Krieg.

Je mehr ich jedoch später über das Leid in der Sowjetunion erfuhr – zum Beispiel durch Solschenizyns „Archipelago Gulag“ und andere Bücher – desto schockierter wurde mir klar: Jeder, der ganze Sklavenarmeen von Millionen unschuldiger Menschen in Lagern schuften und sterben lässt kümmert sich überhaupt nicht um ein besseres Leben für alle. Er verachtet Menschen und Freiheit. Was hatte das mit den ursprünglichen Ideen der sozialen Befreiung zu tun? Hatte nicht Marx – auf den immer wieder verwiesen wurde – einmal von der Freiheit des Einzelnen als Bedingung der Freiheit aller gesprochen?

Nackter Kern der Macht

Man kann argumentieren, dass die Sowjetunion bereits 1918 von Bürgerkrieg und Interventionen bedroht war. Aber genau das hat die Rücksichtslosigkeit, die dem System innewohnt und durch Stalins Paranoia pervertiert wurde, verschärft. Der Sicherheitsapparat bekämpfte in erster Linie seine eigenen Bürger. Hunderttausende wurden eliminiert, was sogar zu einer eigenen Armeeführung führte.

Ja, es gab auch Tauwetterperioden. Doch Gorbatschow, der ab 1985 endlich ernsthaft mit dem „demokratischen Sozialismus“ anfangen wollte, scheiterte kläglich und wurde abgesetzt. Bis heute wurde die stalinistische Vergangenheit nicht offensiv aufgearbeitet. Putin hat diesen Prozess endgültig zum Stillstand gebracht. Vor wenigen Wochen wurde auch die bekannte Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau verboten.

Putin ist ein Kind der Sowjetunion. Vor allem aber verkörpert er ihren nackten Machtkern, beraubt von den „kommunistischen Idealen“, denen manche noch heute nachtrauern. Der Sicherheitsapparat, aus dem Putin stammt, war schon immer technokratisch. Es ging nie um Ideale. Es ging um pure Kraft nach dem Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“.

Diese These wird auch durch einen Bericht bestätigt, der 1993 in der ND-Zeitung erschien und wurde kürzlich wieder von ihr verbreitet. Ihr zufolge soll Putin schon als Politiker in St. Petersburg eine Militärdiktatur im Stile Pinochets als erstrebenswerte Lösung für Russland bezeichnet haben. Es sollte die „Russische Wildwestzeit“, wie Helmut Schmidt es später nannte, beenden. Putin war viel subtiler. Aber das Prinzip war ähnlich: Reibungslos regieren durch Abschaffung der Opposition, Neutralisierung von Kritikern, Verhinderung kontroverser Debatten in den Medien.

Twitter/nd.Current

„Kein Fake. Diese Nachricht war tatsächlich am 31. Dezember 1993 in ND“ – darauf verweist nd.Aktuell auf Twitter.

Die Elemente dieser Herrschaft sind seit langem bekannt. Ohnehin hatte Russland nur kurze Zeit ein wirklich demokratisches Parlament. Putin setzt gekonnt auf Nationalismus und alte Großmachtsymbolik. Besonders gefährlich ist die geschürte Haltung, von Feinden („Foreign Agents!“) Umzingelt zu sein, die einen bedrohen. Und offensichtlich ein tiefes Unverständnis für demokratische Prozesse.

Für Putins System kann man keine Sympathie zeigen. Ein Anachronismus in einem Land, das von vielen weltoffenen, friedliebenden, modernen Menschen bevölkert wird. Sie haben mein Mitgefühl. Ich hoffe – auch für meine russischen Freunde – dass der Ukrainekrieg bald zu Ende geht und die Anfänge von Offenheit und Freiheit, die es alle schon gab, irgendwann wieder aufleben.