Interview: Camilla Alabor und Simon Marti
Sonntagsansicht: Botschafter Kozłowska, Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki ist am Dienstag zu Präsident Selenski nach Kiew gereist. Seine Botschaft?
Iwona Kozłowska: Die Reise von Ministerpräsident Morawiecki – gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus Slowenien und Tschechien sowie dem stellvertretenden polnischen Ministerpräsidenten Kaczynski – war ein Zeichen der Solidarität mit der Ukraine. Die Botschaft an das ukrainische Volk lautete: Sie sind nicht allein, Sie können auf die europäische Unterstützung zählen. Wir stehen zu eurem Freiheitskampf. Und natürlich war die Reise ein starkes Signal an Russland, dass die Ukraine zu Europa gehört.
Live-Link nach Bern: Volodymyr Selensky dankt der Schweiz und kritisiert Nestlé(09:13)
Der Weg war mutig, keine Frage. Aber kann man wirklich von Solidarität sprechen, wenn der Westen russische Bombenangriffe auf ukrainische Zivilisten zulässt?
Die EU-Staaten zeigen sich solidarisch und haben mit harten Sanktionen auf den russischen Angriff reagiert. Natürlich fordert uns die Situation heraus. Aber die Idee eines vereinten Europas bestand gerade darin, Frieden und Freiheit auf dem Kontinent zu sichern. Das ist die Grundlage der europäischen Integration – jetzt kommen wir darauf zurück.
Persönlich
Iwona Kozlowska (50) vertritt als Botschafterin die Interessen Polens in der Schweiz. Nach ihrem Studium der Germanistik und Europastudien in Deutschland trat sie 1999 in den polnischen diplomatischen Dienst ein. Seitdem war sie in verschiedenen außenpolitischen Positionen für die Regierung tätig; von 2007 bis 2012 als Counselor in Berlin. Kozlowska hat zwei Kinder und lebt in Bern.
Iwona Kozlowska (50) vertritt als Botschafterin die Interessen Polens in der Schweiz. Nach ihrem Studium der Germanistik und Europastudien in Deutschland trat sie 1999 in den polnischen diplomatischen Dienst ein. Seitdem war sie in verschiedenen außenpolitischen Positionen für die Regierung tätig; von 2007 bis 2012 als Counselor in Berlin. Kozlowska hat zwei Kinder und lebt in Bern.
Die Ukrainer, die derzeit zur Flucht gezwungen sind, sind wohl kaum ein Trost. Sollte der Westen nicht mehr helfen?
Aber wir helfen! Wir helfen, wo es geht. Auf politischer und humanitärer Ebene, aber auch militärisch durch die Lieferung von Verteidigungswaffen an die Ukraine.
Präsident Selenskyj appellierte an die Nato, eine Flugverbotszone über der Ukraine zu verhängen. Was halten Sie davon?
Solidarität ist keine leere Formel; man muss sie auch leben können. Dieses Thema bedarf der Zustimmung des gesamten NATO-Bündnisses. Wir müssen gemeinsam handeln, nur so können wir diesen Akt der Aggression stoppen.
Tatsache ist, dass der Westen Angst vor Putin hat, und er weiß es.
Natürlich haben die europäischen Gesellschaften Angst vor einem größeren Konflikt. Plötzlich wird unsere Generation mit Krieg in Europa konfrontiert. Die Ukraine ist nur etwa 2000 Kilometer von der Schweiz entfernt und grenzt direkt an Polen. Wir Polen wissen sehr wohl, was Krieg und Fremdherrschaft bedeuten. Wir alle in Europa wollen, dass der Krieg endet und sich nicht ausbreitet.
Polen hatte immer vor Russland gewarnt. Haben Brüssel und Washington diese Befürchtungen zu wenig ernst genommen?
Wir haben Westeuropa immer vor einer zunehmenden Abhängigkeit von Russland gewarnt. Auch Polen hatte sich von Anfang an gegen die Nord Stream-Pipeline ausgesprochen. Wir wissen, dass solche quasi-privaten Projekte riskant sind, wenn sie über die Köpfe von Ländern wie Polen hinweg entschieden werden. Riskant für ganz Europa. Weil wir nur zu gut wissen, wie gefährlich der russische Imperialismus sein kann.
Aber Warschaus Warnungen kamen nicht an.
Westeuropa hat den Mitgliedsländern, die 2004 der EU beigetreten sind, möglicherweise zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wir wurden als Gesellschaft mit unseren Befindlichkeiten und unserer Geschichte nicht vollständig akzeptiert. Die EU konzentrierte sich hauptsächlich auf den Aufbau von Wirtschaftsbeziehungen. Das Spirituelle wurde zurückgelassen.
Die EU erwartet, dass sich die Osteuropäer an den Westen anpassen?
Exakt. Vielfalt ist die Stärke Europas: dass jeder sein kann, wer er ist.
Auch über andere Werte zerstritten sich Polen und die EU in den vergangenen Jahren: Brüssel hat die polnische Regierung wegen Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit kritisiert.
Wir stehen zu allen Verpflichtungen, die wir bei unserem EU-Beitritt im Jahr 2004 eingegangen sind. Die Frage ist, ob diese Verpflichtungen für alle Länder gleichermaßen gelten. In Polen hat man das Gefühl, dass bestimmten Staaten mehr erlaubt ist als anderen. Aber es ist sehr traurig, dass wir heute überhaupt darüber reden müssen. Denn damit hat die Idee der europäischen Integration an Substanz verloren. Es ist nicht gut für Europa, wenn wir uns gegenseitig belehren. Stattdessen sollten wir versuchen, einander besser zu verstehen.
Zurück zur Situation in der Ukraine: Drei Millionen Menschen sind bereits geflüchtet, zwei Millionen davon sind jetzt in Polen. Kann Ihr Land diese Belastung langfristig überhaupt bewältigen?
Es kommt mir wie ein Wunder vor: Alle Polen engagieren sich, alle machen mit. Ukrainische Kinder besuchen polnische Schulen, ihre Eltern erhalten eine Arbeitserlaubnis und Zugang zum Sozialsystem. Wir wissen nicht, wie lange dieser Ausnahmezustand andauern wird. Aber das Wichtigste ist jetzt, alles zu tun, um diesen Menschen zu helfen. Dies ist eine europaweite Herausforderung und Verantwortung.
Polen wollte sich in der Vergangenheit nicht an einem europäischen Verteilungssystem für Flüchtlinge beteiligen. Gibt es jetzt ein Umdenken?
Nein, das ist kein Umdenken. Unvergleichliches kann man nicht vergleichen. Heute haben wir es in Polen mit Kriegsflüchtlingen zu tun; mit Frauen und Kindern, die in Not sind und Sicherheit brauchen.
Auch syrische Flüchtlinge sind in Not und fliehen ebenfalls vor dem Krieg.
Natürlich muss man diesen Menschen helfen. Damals wurde jedoch versucht, die Flüchtlinge dazu zu zwingen, sich selbst zu entscheiden, wo sie Schutz suchen sollten, obwohl alle nach Deutschland wollten. Heute entscheiden sich die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine dafür, in Polen zu bleiben. Nur diejenigen, die in andere Länder reisen möchten.
Braucht Polen mehr Unterstützung, zum Beispiel aus der Schweiz?
Die Zusammenarbeit ist sehr gut, der Kontakt zu den Schweizer Behörden hervorragend. Generell haben Polen und die Schweiz viel gemeinsam.
Was meinen Sie?
Polen und Schweizer haben ihre Herzen und Häuser für Flüchtlinge geöffnet. respekt dafür! Natürlich haben Schweizer ganz andere historische Erfahrungen als Polen, aber was uns wichtig ist, ist auch Ihnen wichtig: Freiheit und Souveränität. Heute kämpfen die Ukrainer für die Souveränität ihres Landes. Sie kämpfen auch für die Freiheit Europas.