Zivilgesellschaft weltweit unter Druck, sagt neuer Bericht | Welt | Aktuelle Nachrichten und Perspektiven aus der ganzen Welt | DW

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Engagement in der Zivilgesellschaft kann viele Formen annehmen: Umweltaktivismus, Kampf für die Gleichstellung der Geschlechter, indigene Gruppen schließen sich zusammen. Menschen schließen sich für bessere Arbeitsbedingungen zusammen, wollen ihre Sexualität frei leben, wehren sich gegen verschiedene Formen der Unterdrückung und vieles mehr. Manchmal werden diese Initiativen von Regierungen begrüßt – etwa wenn Bürger dem Staat helfen, sich um Flüchtlinge zu kümmern, wie es Millionen Deutsche tun, um denen zu helfen, die aus der Ukraine geflohen sind. Aber viele andere sind es nicht.

Menschen weltweit spüren die Auswirkungen. Silke Pfeiffer, Leiterin des Referats Menschenrechte und Frieden bei der in Deutschland ansässigen Nichtregierungsorganisation Brot für die Welt, verdeutlicht dies gegenüber der DW mit einer Zahl: „Nur 3 % der Weltbevölkerung haben das Glück leben in Ländern, in denen die Bedingungen für zivilgesellschaftliches Handeln als ‚offen‘ bezeichnet werden können.“

Nur 240 Millionen von 8 Milliarden Menschen leben in „offenen“ Ländern

Von den fast 8 Milliarden Menschen auf der Welt sind das nur 240 Millionen. Andererseits leben mehr als 7 Milliarden Menschen in Ländern, in denen Kritiker schikaniert, verfolgt und inhaftiert werden, in denen Grundrechte beschnitten werden.

Diese Zahlen stammen aus dem aktuellen „Atlas der Zivilgesellschaft“, den Brot für die Welt nun zum fünften Mal vorlegt. Er bestätigt einen kürzlich im Bertelsmann Transformation Index und im Jahresbericht von Amnesty International festgestellten Trend: Die Demokratie ist weltweit auf dem Rückzug; Menschen- und Bürgerrechte geraten in immer mehr Ländern unter Druck.

Ein wesentlicher Bestandteil des Zivilgesellschaftsatlas ist der CIVICUS-Monitor. Die Nichtregierungsorganisation CIVICUS mit Sitz in Johannesburg, Südafrika, wertet laufend Berichte von Partnerorganisationen weltweit sowie aus öffentlichen Quellen aus. Basierend auf diesen Daten werden die Länder in 5 Kategorien eingeteilt, von „offen“ bis „geschlossen“. Im Vergleich zu ihrem vorherigen Bericht hat sich nur ein Land verbessert: Der Status der Mongolei wurde von „eingeschränkt“ auf „beeinträchtigt“ hochgestuft.

Rückschläge in Europa

Gleichzeitig sind 14 Länder im Ranking nach unten gerückt, darunter zwei EU-Mitgliedsstaaten: Tschechien und Belgien verschlechterten sich von „offen“ auf „beeinträchtigt“. „Im Fall Belgiens ist dies auf das harte Vorgehen der Polizei gegen friedliche Versammlungen Ende 2020/Anfang 2021 zurückzuführen“, erklärt Silke Pfeiffer.

In Weißrussland, wie auch in Nicaragua, diagnostizierte der CIVICUS-Monitor, dass sich die Situation so stark verschlechtert habe, dass beide Länder in die schlechteste Kategorie „geschlossen“ eingestuft wurden. Diese Kategorie umfasst 23 andere Nationen wie Nordkorea, China und Saudi-Arabien.

In Russland, das in die zweitschlechteste Kategorie „Unterdrückt“ eingestuft wird, hatte sich die Situation bereits in den letzten Jahren verschlechtert. „Das hat sich seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine verschlechtert“, beobachtet Silke Pfeiffer. „Menschen, die auf die Straße gegangen sind [to protest the invasion] werden massenhaft festgenommen, Medien werden geschlossen, über bestimmte Dinge darf nicht mehr berichtet werden. Bedeutende Stimmen sind jetzt gezwungen, ins Ausland zu gehen.“

Die russische Journalistin Angelina Davydova wurde im März inmitten des Krieges des Kremls gegen die Ukraine und des harten Vorgehens gegen die Zivilgesellschaft im Inland ins Exil gezwungen

Eine dieser Stimmen ist Angelina Davydova. Seit Ende März ist die Journalistin, Zivilgesellschaftsexpertin und Umweltaktivistin in Berlin. Sie verließ Russland wie so viele andere über Istanbul. Davydova beschrieb den wachsenden Druck, dem die Zivilgesellschaft in den letzten Jahren ausgesetzt war, die Unterdrückung von Aktivisten. Sie spricht von dem „riesigen Schock“, den das Verbot der renommiertesten Menschenrechtsorganisation des Landes, Memorial International, Ende letzten Jahres ausgelöst habe – weil es ein Zeichen dafür sei, dass ihre Arbeit „vom Staat als feindlich wahrgenommen wird“. Memorial wurde zu Sowjetzeiten gegründet und für seine Arbeit 2004 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.

Trotz dieser wachsenden Schwierigkeiten haben sich viele Aktivisten entschieden zu bleiben, sagte Davydova. Sie wünscht sich, dass der Westen im Dialog mit der russischen Zivilgesellschaft bleibt – und nie vergisst, „dass es auch in Russland Andersdenkende und zivilgesellschaftliche Initiativen gibt, die wichtig sind“.

Networking und Desinformation

Ein zentrales Thema im Atlas der Zivilgesellschaft ist die Digitalisierung. Rupert Graf Strachwitz, Zivilgesellschaftsexperte der Maecenata-Stiftung: „Die Möglichkeit, Informationen zu verbreiten, ohne einen ‚Gatekeeper‘ dazwischen zu haben, war einer der Gründe, warum sich Zivilgesellschaften in den vergangenen 30 Jahren so stark entwickeln konnten.“

Die Macht digitaler Medien zeigt sich auch daran, inwieweit besonders autoritäre Regime ihre technologische Leistungsfähigkeit ausbauen. Das Ziel: Den Handlungsspielraum zu verengen, der sich im digitalen Raum eröffnet hat.

Eine besonders drastische Maßnahme wird laut Atlas immer häufiger angewendet: die komplette Abschaltung des Internets. So wurden beispielsweise in den Tagen rund um die Präsidentschaftswahlen 2020 viele Social-Media-Seiten in Tansania gesperrt. In Indien, das sich gerne als „größte Demokratie der Welt“ bezeichnet, wurde im vergangenen Jahr in verschiedenen Regionen mehr als 100 Mal der Stecker in den Informationsstrom gezogen.

Zu den Schattenseiten der Digitalisierung gehört die Verbreitung von Fehlinformationen und Hassreden. Dem Atlas zufolge hat Russland bereits vor Beginn seiner Invasion in der Ukraine in großem Umfang Waffen eingesetzt. Das Recht auf Information sei jedoch ein grundlegendes Menschenrecht und eine wesentliche Voraussetzung für eine funktionierende Zivilgesellschaft, erklärte Silke Pfeiffer. „Wenn dieses Recht durch die Verbreitung von Falschmeldungen beschnitten wird, untergräbt das eine wichtige Grundlage für zivilgesellschaftliches Engagement.“

Dieser Artikel wurde aus dem Deutschen übersetzt.