Geschichte – Der Verrat an Anne Frank – Dramatisches Ende einer Sensation – Wissen

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Geschichte – Der Verrat an Anne Frank – Dramatisches Ende einer Sensation – Wissen

Amsterdam (dpa) – An der Wand hängt ein großer Stadtplan, Fotos von Verdächtigen, eine blaue Jacke mit den gelben Buchstaben FBI liegt lässig über einem Stuhl.

Das ist die Kulisse fieberhafter Ermittlungen, wie man sie aus Fernsehkrimis kennt. Und so zeigen Fotos das Büro des internationalen Expertenteams in Amsterdam, das fünf Jahre lang einen der spektakulärsten Fälle der Geschichte untersucht hat: Wer hat Anne Frank verraten?

Die vom Team geteilten Fotos des Büros stehen symbolisch für alles, was bei den Ermittlungen schief gelaufen ist. Die Ergebnisse der Ermittlungen wurden von der kanadischen Autorin Rosemary Sullivan in dem im Januar veröffentlichten Buch „Der Verrat der Anne Frank“ niedergeschrieben. Bei dem Verräter handelte es sich höchstwahrscheinlich um einen jüdischen Notar, der sich und seine Familie retten wollte. Die acht jüdischen Bewohner des Amsterdamer Hinterhauses, darunter Anne Frank, wurden deportiert. Nur Annes Vater Otto überlebte.

Doch von der Sensation war inzwischen kaum noch etwas übrig. Namhafte Historiker kritisierten scharf und fanden schwerwiegende Fehler. Manche sprachen von einem „Kartenhaus der Beweise“. Der Amsterdamer Professor für Holocaust- und Völkermordstudien, Johannes Houwink ten Cate, sagte: „Mit großen Anschuldigungen kommen große Beweise. Und es gibt keine.“

Der niederländische Verlag Ambo Anthos hat eine Neuauflage herausgebracht und will zuerst Antworten vom Team. „Eine kritischere Haltung wäre möglich gewesen“, räumte der Verleger ein. Die Kritisierten bestreiten die Vorwürfe und sagen, sie hätten nie behauptet, es gebe Gewissheit. Zu den Vorwürfen wollen sie sich zu einem späteren Zeitpunkt äußern.

Wie ist das alles passiert?

Offensichtlich musste bei diesem Projekt alles in das lukrative Format des Cold Case – des ungelösten, also kalten Kriminalfalls – passen. Aber ein kritischer Blick von außen, von Historikern, passte nicht. Das Team von Cold Case selbst führt eine beeindruckende Liste namhafter Historiker auf und möchte ihnen für ihre Zusammenarbeit danken. Nur: Viele von ihnen wissen nichts davon, hat die Tageszeitung „Trouw“ jetzt enthüllt.

Anne Frank (1929 – 1945), die von 1942 bis zum Verrat 1944 im Amsterdamer Versteck vor den Nazis ihr heute weltberühmtes Tagebuch schrieb, ist kein kalter Fall. Der Direktor der Anne Frank Stiftung, Ronald Leopold, warnte: „Man muss sehr vorsichtig sein, bevor man jemanden als Verräter an Anne Frank in die Geschichte schreibt, wenn man sich nicht 100 oder 200 Prozent sicher ist.“

Das Team aus rund 200 Experten war eine Initiative eines niederländischen Filmemachers und eines Journalisten. Es wurde von Ex-FBI-Agent Vince Pankoke geleitet, der einst Kokainhändler in Kolumbien gejagt hatte. „Wir haben keinen rauchenden Colt gefunden“, sagte er. „Aber unsere Theorie hat eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 85 Prozent.“

Zehntausende Dokumente wurden mit modernsten technischen Mitteln, Datenanalyse und künstlicher Intelligenz durchsucht. Die Ermittler fanden auch ein wichtiges Beweisstück. Kopie eines anonymen Briefes, den Otto Frank nach dem Krieg erhalten hat, in dem der Name des Notars genannt wird.

Etwa 30 Theorien mit möglichen Verdächtigen wurden eingehend untersucht und als unwahrscheinlich zurückgestellt. Doch wenn es um den eigenen Verdacht ging, waren die Ermittler weniger vorsichtig.

Da ist der Brief: Der Verdacht gegen den Notar sei bereits in den 1960er Jahren untersucht worden. Die Polizei hielt es für unwahrscheinlich. Die Fragen von damals sind bis heute unbeantwortet: Wer hat den anonymen Brief geschrieben? Und warum? Sollte jemand aus Rache geschwärzt werden?

Die Adresslisten: Der Notar war Mitglied des Judenrats, der nach Angaben des Cold Case-Teams Listen mit Hunderten von Adressen versteckter Juden hatte. Nur: Es gibt keine Beweise dafür, dass der von den Deutschen zwangsweise eingerichtete Judenrat solche Listen geführt hätte. Professor Houwink ten Cate sagt: „So etwas habe ich in 35 Jahren Forschung noch nie gesehen.“ Sein Kollege Bart van der Boom von der Universität Leiden sprach sogar von „verleumderischem Unsinn“. Er ist Experte für die Geschichte des Judenrats, wurde aber nicht vom Cold Case Team konsultiert.

Und der Notar: Zum Zeitpunkt des Verrats im August 1944 war er laut einer Dissertation mit seiner Familie bereits untergetaucht. Jeder Kontakt mit dem deutschen Sicherheitsdienst hätte nur Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt. Ein Todesurteil. Allerdings hatte das Team von Cold Case die Studie über den Notar noch nicht einmal gelesen.

Die Fehler hätten vermieden werden können, wenn das Buch zuvor Historikern zum Korrekturlesen vorgelegt worden wäre. Aber nur wenige ausgewählte Medien hatten es vorab mit einer sehr strengen Geheimhaltungsklausel erhalten. Sie hatten keine Chance, die Testergebnisse vorab Historikern vorzulegen.

Wohl Absicht, meint der Amsterdamer Historiker David Barnouw, der selbst jahrelang über Anne Frank und ihren Verrat recherchiert hat. „Offensichtlich waren sie sich ihrer nicht so sicher.“ Und dann ist so eine Sensation natürlich auch sehr lukrativ. Das Buch soll weltweit vermarktet werden, eine Verfilmung ist geplant.

© dpa-infocom, dpa:220203-99-955532/2