Angriffskrieg und Völkerrecht: Strafverfolgung Putins eher unwahrscheinlich – Wissen

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Angriffskrieg und Völkerrecht: Strafverfolgung Putins eher unwahrscheinlich – Wissen

Der Internationale Gerichtshof hat am Mittwoch Russland aufgefordert, die militärische Gewalt in der Ukraine unverzüglich zu beenden. Damit hat das höchste Gericht der Vereinten Nationen in Den Haag einer Klage der Ukraine gegen Russland stattgegeben. Doch das Urteil ist nur symbolisch. Und Russland zeigte sich davon unbeeindruckt, die Bombardements gingen unvermindert weiter.

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Welche Chancen hat der Internationale Gerichtshof, in diesem Krieg eine Strafverfolgung durchzusetzen und wie ist der Angriff straf- und völkerrechtlich einzuordnen? Anne Fock, Expertin für Friedenssicherungsrecht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), stuft die Gewaltanwendung Russlands gegen die Ukraine als eindeutig rechtswidrig ein. Es ist die Fortsetzung dessen, was 2014 mit der Annexion der Krim begann.

Seitdem kann sich die Ukraine auf ihr Recht auf Selbstverteidigung berufen. Russland hingegen kann das nicht. Selbst wenn die NATO als feindliches Angriffsbündnis an Russlands Grenzen präsent wäre, würde dies nicht auf ein russisches Selbstverteidigungsrecht hinauslaufen Der russische Präsident Wladimir Putin zu Beginn des Angriffs angerufen.

Angriff ist keine Selbstverteidigung

Für Russland hätte ein Angriff der Nato unmittelbar bevorstehen müssen, um sich auf das Recht auf Selbstverteidigung berufen zu können. „Das Gleiche gilt nicht für die Krim, denn auch dort hätte die NATO einen Angriff auf Russland nicht ohne Weiteres durchführen können“, sagte Fock am Mittwoch in einem Online-Forum der Viadrina.

Auch in diesem Punkt irrte Putin, der in seiner Rede vom 24. Februar versuchte, den russischen Angriff völkerrechtlich zu rechtfertigen. „In diesem Fall können wir das individuelle Selbstverteidigungsrecht für Russland ausschließen“, sagte Fock. Auch präventive Maßnahmen zur Abwehr eines möglichen Angriffs sind nicht mit der UN-Charta vereinbar. Fock schloss kategorisch aus, dass der Angriffskrieg – wie Putin behauptet hatte – eine völkerrechtliche Grundlage habe.

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Die UN-Charta verbietet völkerrechtswidrig jegliche militärische Gewalt eines Staates gegen einen anderen. Dasselbe gilt für eine gewaltsame Annexion wie die Krim. Beides ist eine Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität der Ukraine. Artikel 51 der UN-Charta regelt das Recht auf Selbstverteidigung als Ausnahme vom Gewaltverbot.

Putin hatte auf die individuelle Selbstverteidigung Russlands verwiesen, da die Osterweiterung der Nato Russland zunehmend bedrohe. Dazu müsste es sich allerdings um eine rechtswidrige Gewaltanwendung mit besonders hoher Intensität handeln. „Das gilt für Russland im Hinblick auf die Nato-Osterweiterung nicht, da es keine Feindseligkeiten gegen Russland gegeben hat“, sagte Fock.

Putins Argumentation ist inkohärent

Zudem verwies Putin auf das kollektive Selbstverteidigungsrecht der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Er sprach von der Notwendigkeit, den „Völkermord“ im Donbass zu stoppen. Dies würde für eine humanitäre Intervention des UN-Sicherheitsrates sprechen. Dann aber sprach er davon, dass die Volksrepubliken Russland um Hilfe gebeten hätten. Putins Argumentation ist hier inkohärent.

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Damit die Volksrepubliken ein kollektives Recht auf Selbstverteidigung haben, hätte ein bewaffneter Angriff auf sie Voraussetzung sein müssen – etwa durch den Einmarsch der ukrainischen Armee. Aber das Recht auf Selbstverteidigung sei ohnehin auf unabhängige Staaten beschränkt, erklärt Fock. Allerdings ist die Staatlichkeit der beiden Volksrepubliken zweifelhaft, da sie ohne die Gewaltanwendung Russlands nicht existieren würden – und weitgehend von Russland abhängig sind. Davon abgesehen würde Russlands derzeitiger Angriff auf die Ukraine territorial weit über das hinausgehen, was zur Verteidigung der beiden Volksrepubliken erforderlich ist.

Angriff auf Zivilisten. Ein Mann trägt sein Kind aus einer bei einem Angriff beschädigten Entbindungsklinik in Mariupol.Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa

Nur die russische Führung um Putin könne wegen der rechtswidrigen Aggression der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine strafrechtlich verfolgt werden, erklärte Kilian Wegner, Juniorprofessor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht an der Viadrina. Neben Aggression gibt es auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die unter a Angriffe auf Zivilisten gelten als Straftaten. „Es gibt Hinweise darauf, dass dies in diesem Krieg eine Rolle spielt“, sagte Wegner.

Kriegsverbrechen sind in diesem Fall kriegsrechtswidrige Angriffe auf die Zivilbevölkerung, die eine exzessive oder sogar gezielte Schädigung von Menschen beinhalten. Ein Beispiel dafür könnte der Angriff auf das Entbindungsheim in Mariupol sein.

Durchsuchung durch den Internationalen Strafgerichtshof

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag könnte solche Verbrechen verfolgen. Allerdings haben weder Russland noch die Ukraine die Souveränität des Haager Tribunals anerkannt. Allerdings hat sich die Ukraine nun der Jurisdiktion des Internationalen Gerichtshofs unterworfen, um die auf ihrem Hoheitsgebiet begangenen Kriegsverbrechen zu verfolgen.

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Allerdings kann der Straftatbestand der völkerrechtswidrigen Aggression nur gegen Mitgliedstaaten des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, also nicht gegen Russland, angewendet werden. Sonst könnte es nur der UN-Sicherheitsrat anordnen, aber hier hat die Russische Föderation ein Vetorecht.

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Vom Strafgericht gesuchte Personen müssen von den Mitgliedstaaten des Römischen Statuts festgenommen und ausgeliefert werden, wenn sie auf ihrem Hoheitsgebiet festgenommen werden. Dies gilt auch für Staatsoberhäupter, die hier keine Immunität genießen. „Ob die betroffenen Staaten das tun, ist eine andere Frage“, sagt Wegner. Früher war das nicht immer so.

Auch die deutsche Justiz kann parallel zum Internationalen Gerichtshof tätig werden – bei Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Völkerrechtswidrige Aggressionen müssten sich dagegen gegen Deutschland selbst richten, um geahndet zu werden. Und die deutsche Justiz kann gegen amtierende Staatsoberhäupter nicht vorgehen, weil sie Personenimmunität genießen.

Von einer strafrechtlichen Verfolgung des Anschlags auf die Ukraine geht Kilian Wegner nicht aus. Die Erfahrung zeigt, dass bei dieser Art von Konflikten und hohen politischen Persönlichkeiten die politische Macht über die Strukturen der Strafjustiz siegt. „Deshalb glaube ich nicht, dass wir Wladimir Putin vor einem Strafgericht sehen werden.“ Man sollte sich in dieser Frage keine falschen Hoffnungen machen.