Ein Energiesystem ohne jegliche Fossilien

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Ein Energiesystem ohne jegliche Fossilien
  • VonJoachim Will

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Um bis 2035 fast 100 Prozent Ökostrom zu erreichen, reicht der schnelle Ausbau der Erneuerbaren allein nicht aus.

Russlands Krieg gegen die Ukraine verändert alles, nicht zuletzt die deutsche Energiepolitik. Die Folgen werden wahrscheinlich drastischer sein als andere Schocks wie die Ölkrisen der 1970er, die Klimadebatte seit den 1990er Jahren oder die Atomkatastrophen von Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011. Gas- und Öllieferungen aus Putins Land sollen ebenso eingestellt werden So schnell wie möglich sollen LNG-Terminals für Flüssiggas aus Übersee gebaut werden. Und es wird sogar über eine übergangsweise Reaktivierung von bisher absolut tabuisierten Atomkraftwerken und Kohlehalden diskutiert.

Vor allem aber: Die Bundesregierung will dem Ökostrom einen zusätzlichen Turbo verpassen. Statt 2050 soll die Stromversorgung nun bis 2035 „nahezu vollständig aus erneuerbaren Energien“ kommen, heißt es in einem Papier des Bundeswirtschaftsministeriums.

Kann das funktionieren? Die Öko-Energien Sonne, Wind, Wasser und Biomasse deckten im vergangenen Jahr rund 42 Prozent des Stromverbrauchs. Dieses Wachstum wurde vor allem durch die Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) im Jahr 2000 innerhalb von gut zwei Jahrzehnten erreicht. Denn die 100-Prozent-Marke, also eine Steigerung um 58 Prozentpunkte, wird bereits 2035, also in 13 Jahren, erreicht , erreicht werden soll, muss das Expansionstempo deutlich erhöht werden. Die Ampelregierung will die notwendigen Gesetze schneller als bisher geplant durch das Parlament bringen.

Experten schätzen, dass mindestens eine Verdreifachung der bisher erzielten durchschnittlichen Wachstumsraten notwendig ist, da der Stromverbrauch im Vergleich zu heute tendenziell stark ansteigt. Hauptgrund: die Elektrifizierung zweier bisher von fossilen Energien dominierten Sektoren, Verkehr und Gebäude. Batterieautos sollen Benzin- und Dieselmotoren ersetzen, elektrische Wärmepumpen sollen Öl- und Gasheizungen ersetzen. Die Bundesregierung geht davon aus, dass der Stromverbrauch bis 2030 von heute rund 600 auf 715 Terawattstunden (TWh) steigen wird. Die Erneuerbaren sollen dann mit 572 TWh rund 80 Prozent beitragen. Die restlichen 20 Prozentpunkte müssten nach den neuesten Berliner Plänen bis 2035 hinzukommen.

Richtig Fahrt aufnehmen soll der Ausbau in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. Bis 2027, 2028 bzw. 2029 soll sie kontinuierlich steigen, sodass die Onshore-Windenergieanlagen dann zehn Gigawatt (GW) Mehrleistung pro Jahr, Solaranlagen 20 und Offshore-Windanlagen neun – also insgesamt 39 Gigawatt – erzeugen. Zum Vergleich: Wenn es gut läuft, werden in diesem Jahr in diesen Sektoren drei, sieben oder 0,5 GW erreicht, also 10,5.

Experten gehen davon aus, dass noch schnellere Geschwindigkeiten möglich sind. Die Berliner Energieprofessorin Claudia Kemfert sagt: „Eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien im klassischen Stromsektor ist bis 2030 möglich, wenn wir endlich die Füße von der Bremse nehmen.“ Auch die Elektrifizierung der Sektoren Gebäude, Wärme, Industrie und Verkehr sei bis 2035 realisierbar, sagt der Experte vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), der auch im Umweltrat der Bundesregierung (SRU) sitzt. Das geht kostengünstig und effizient, wie verschiedene DIW-Studien zum Thema gezeigt haben.

Die „Energy Watch Group“ (EWG), ein Zusammenschluss fortschrittlicher Energieexperten und Parlamentarier, hat den bislang ehrgeizigsten Plan vorgelegt. Den vollständigen Ausstieg aus der fossilen Energieversorgung in allen Sektoren bis 2030 hält sie für machbar, wenn auch „mit großem Aufwand“, wie EWG-Präsident Hans-Josef Fell, ehemaliger Grünen-Bundestagsabgeordneter und EEG-Miterfinder, einräumt. Auch seine Gruppe geht davon aus, dass Solar- und Windenergie den Löwenanteil liefern werden. Es muss dafür gesorgt werden, dass der bisher in Sachen Windkraft geschlagene Süden der Republik nachzieht, weil sonst zu viele teure Nord-Süd-Stromleitungen gebaut werden müssten.

Aber auch bei den anderen Erneuerbaren – Wasser, Biomasse und Geothermie – gibt es noch Potenzial, das ausgebaut werden kann. Allerdings müssen ökologische Kriterien berücksichtigt werden. Also: fischfreundliche Anlagen für Wasserkraft, Nutzung mehrjähriger Wildpflanzenkulturen statt Mais und Raps für Biogas, Auswahl siedlungsverträglicher Geothermiestandorte.

Der schnelle Ausbau der Erneuerbaren allein reicht jedoch nicht aus. Die zweite große Herausforderung wird sein, die Stabilität des Stromnetzes auch mit 80 oder 100 Prozent Ökostrom sicherzustellen. So auch in Zeiten der „Dunkelflaute“, also wenn keine Sonne scheint und wenig Wind weht. Auch dafür gibt es Konzepte. Speichertechnologien wie Solarbatterien, Wasserstoffspeicher, Pumpspeicherkraftwerke und Wärmespeicher müssen synchron ausgebaut werden.

Darüber hinaus setzen Experten darauf, die bestehenden Biogasanlagen mit Speichern so aufzurüsten, dass sie als „Lückenfüller“ dienen können. Weitere Stichworte: Vernetzung von Ökostromsystemen zu virtuellen Kraftwerken, Flexibilisierung des Stromverbrauchs, Nutzung von Wasserkraftwerken in Norwegen als „grüne Batterien“. Wenn das alles umgesetzt wird, braucht man wohl keine Blackouts zu befürchten.

Dieser Beitrag ist der Auftakt einer FR-Reihe zum künftigen Energiesystem in Deutschland. Weitere Teile behandeln Themen wie Biogas als Ersatz für Erdgas, Virtuelle Kraftwerke und Stromspeicherung.