Eie Melancholie geht von diesem Festival aus, eine kaum zu verdrängende Traurigkeit, die nicht nur daran liegt, dass bei so wenigen amerikanischen Filmen auch zu wenig Ironie und Raffinesse und zu viel seriöser europäischer Ernst vorhanden sind; aber da kommt es her. Das liegt vor allem daran, dass man nach wochen- und monatelangen Kontakt- und Reisebeschränkungen noch mehr als sonst hungrig nach Geistesgegenwart und Zeitgenossenschaft ist, also nach Filmen, die nicht nur wissen, wovon sie reden. Die aber auch wissen, wie es ihren Zuhörern geht, mit wem sie zu welcher Zeit sprechen. Radu Judes „Crazy Porn“ hat im vergangenen Jahr auch deshalb den Goldenen Bären gewonnen: Weil es ein Film mit Datumsstempel war, eine Inszenierung, bei der sich alle Beteiligten, bevor sie sich näher kommen, eine Maske über den Mund stülpen und Nasen, was nicht Thema dieses Films war. Aber immer noch das wichtige Detail, das die Helden mit den Zuschauern verband.
Abgesehen von Claire Denis‘ „Avec amour et acharnement“ glaubt in diesem Jahr kein Film, dass er so etwas braucht. Das soll wohl zeitlose Gültigkeit suggerieren – aber wenn man im Kino sitzt und noch die neusten Nachrichten im Ohr hat, die Prognosen, dass es zehn, zwanzig Jahre dauern wird, bis das Virus uns so ungerührt verlässt wie die Grippe: dann zaubern Inszenierungen die von Corona nichts wissen wollen, nur keine Normalität, die nur kurz unterbrochen wird. Dann spielen sie, egal was der Film zur Erzählzeit erklärt, in einer Welt, die vergangen und verloren ist. Höchstens in einem Paralleluniversum, das mit unserer Welt nichts zu tun haben will. Denkbar wäre, dass ein solcher Film auch als Vorgabe, möglicherweise als Utopie verstanden werden könnte; aber es brauchte dafür härtere und konfliktfreundlichere Filme.
Bild: Kat Menschik
Sie haben nur Kindersärge, die Särge für Erwachsene sind ausgegangen, weil es letzten Monat eine Grippeepidemie gab. Dieser Satz, vielleicht einer der schlagfertigsten dieses Festivals, fällt in einen Film, der vor fast 75 Jahren im Italien der Nachkriegszeit spielt, wo die Menschen, nachdem sie am Heldentum gescheitert sind, zu den Helden der Kunst zurückkehren. Die Asche von Luigi Pirandello, seit seinem Tod 1936 in Rom eingemauert, soll auf Wunsch Pirandellos nach Agrigento, seiner Heimatstadt, gebracht werden. Der mittlerweile neunzigjährige Paolo Taviani hat bei diesem Film Regie geführt – und es ist, als ob ihn, der mit dem oft trägen künstlerischen Willen seiner Inszenierungen das Publikum furchtbar belasten könnte, nun eine gewisse Alterstörichtheit erfasst hat, die ist vielleicht die höchste Form der Altersweisheit. „Leonora Addio“ heißt der Film, in dem die Kiste mit der Asche des Dichters immer wieder fast verloren geht und der Kindersarg, in dem die Urne schließlich durch Agrigento getragen wird, die Zuschauer auf den Balkonen zu respektloser Heiterkeit zwingt. Ein Zwerg ist drinnen, spotten die Leute, was der Riese Pirandello nicht mehr hören kann.
Asche, Staub, Metaphern
Doch denkt man schmunzelnd, Taviani habe im Alter zum Slapstick-Kino gefunden, zu den absurden und körperlichen Gags, kommt das Dementi als Nachtrag: Kurz vor seinem Tod schrieb Pirandello die Kurzgeschichte „Der Nail“, die erzählt eines italienischen Jungen in Brooklyn, der ohne Grund, ohne Motiv ein Mädchen mit einem Nagel ersticht, was Pirandello schon sehr breit ausrollt. Aber Taviani beweist dann, dass Kino ebenso geschwätzig sein kann, wenn er zum Beispiel nachträglich Staub aufwirbelt und den Himmel über einer metaphorisch gemeinten Cinecittà Brooklyn verdunkelt und die Geschichte aus jeder Spur von Lakonie treibt. Einmal im Jahr, heißt es aus dem Off, besucht der Mörder das Grab des Ermordeten. Was Taviani dann wirklich zeigt. Nach der wunderbaren Unernsthaftigkeit des ersten Teils ist dies die Asche auf Tavianis Kopf.
Szene aus Carla Simóns „Alcarràs“ mit Joel Rovira, Ainet Jounou, Isaac Rovira
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Bild: LluisTudela
Am Ende von Carla Simóns „Alcarràs“ stellt sich die umgekehrte Frage: ob man ihn vielleicht zu gut verstanden hat. Und ob Sie sich selbst verfallen sind, weil es schwierig ist, von all den Abstandsregeln zu abstrahieren, denen Sie auch im Kino unterliegen. Und gerade deshalb wirkt das von Nähe, ja Enge bestimmte Leben einer katalanischen Familie auf dem Land so unglaublich schön und menschlich. Der Film spielt in der Gegenwart, was man an den Autos erkennen kann, die manchmal am Bildrand parken – und diese Gegenwart geht gerade zu Ende, weil ihr die materielle Grundlage entzogen wird. Die Pfirsichplantage, von der die Familie Solé nicht nur materiell lebt, ist nur gepachtet. Sie dürfen ein letztes Mal ernten, dann werden hier die Bäume gefällt und Solarpanels aufgestellt. Und weil man damit auch noch gutes Geld verdienen kann, spaltet sich die Familie in diejenigen, für die die Landwirtschaft mehr als nur ein Job ist und diejenigen, die von der neuen Zeit profitieren wollen.
Kinder dürfen zu Filmbeginn noch mit toten Hasen spielen, die Erwachsenen grillen Schnecken und schubsen sich nach den ersten Gläsern Wein gegenseitig in den Pool. Und wenn Clara Simón nicht gehofft hätte, dass diese Lebensweise das Verschwinden ihrer wirtschaftlichen Bedingungen noch überleben würde – dann hätte sie „Alcarràs“ gar nicht inszenieren müssen. Traurig ist er sowieso.