Berlin (dpa) – Es geht um eine ethisch schwierige Klärung und um eine scharfe Kehrtwende in der deutschen Corona-Politik: An diesem Mittwoch diskutiert der Bundestag in einer offenen Orientierungsdebatte über eine lange ausgeschlossene generelle Impfpflicht.
Es könnte eine Art letzter Ausweg sein, um den Weg aus der Pandemie zu finden. Dabei geht es nicht nur um Ja oder Nein, sondern auch um mögliche Zwischenlösungen und verschiedene praktische Aspekte. Und die wichtige Frage, ob eine Lösung Spannungen lösen oder verschärfen kann.
Warum ist überhaupt eine Impfpflicht?
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte bereits bei seinem Amtsantritt deutlich gemacht, dass er sich nun für eine Impfpflicht einsetzt. Auch die Ministerpräsidenten haben sich so positioniert. Denn die breit angelegten Impfkalkulationen gingen einfach nicht auf: Eine Impfpflicht wurde gerade deshalb ausgeschlossen, um Impfgegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Aber das ganze Land habe gelernt, dass „etwas, worauf wir so viel Wert gelegt haben, nicht geklappt hat“, erklärte Scholz: „Dass wir allein durch Überzeugung eine ausreichend hohe Durchimpfungsrate erreichen können.“
Was ist das Besondere an der Debatte?
So deutlich Scholz für eine Impfpflicht wirbt, so klar ist auch, dass er sie als Regierungschef nicht selbst gestalten und umsetzen will. SPD, Grüne und FDP haben sich darauf verständigt, dass die Abgeordneten ohne die üblichen Fraktionsvorgaben frei beraten und entscheiden sollen. „Impfpflicht ist kein Koalitionsplan“, sagte FDP-Chef Christian Lindner. Er und Scholz begründen die offene Debatte damit, dass diese einen befriedenden Konsens ermöglichen solle. Offensichtlich hat die Koalition auch hier keine gemeinsame Linie. Die oppositionelle Union spießt dies als Führungsschwäche auf und fordert unverdrossen einen Regierungsentwurf.
Was genau bedeutet Impfpflicht?
Genau genommen handelt es sich um eine Impfpasspflicht. Denn klar ist, dass niemand gegen seinen Willen und eventuell mit körperlicher Gewalt zu Impfungen gezwungen werden kann. Das Muster könnte die erste bereits besiegelte befristete Pflicht sein: Beschäftigte in Einrichtungen mit gefährdeten Personen wie Pflegeheimen und Kliniken müssen bis zum 15. Und es wurde eine mehrmonatige Frist gegeben, um sich impfen zu lassen. Das sollte auch bei der allgemeinen Pflicht der Fall sein.
Wen betrifft die Impfpflicht?
Gut die Hälfte der Deutschen wäre wohl selbst nicht betroffen: Immerhin 42,2 Millionen Menschen oder 50,8 Prozent aller Einwohner seien bereits „geboostet“. So bekamen sie in der Regel drei Spritzen und damit alle empfohlenen Impfungen. Viele Menschen, die zweimal geimpft wurden, dürften bald folgen. 15 Prozent der 69,4 Millionen Erwachsenen sind laut Robert-Koch-Institut (RKI) noch immer nicht geimpft – bei Menschen über 60 mit erhöhtem Corona-Risiko sind es 11,5 Prozent. Eine Quote von 100 Prozent wird es ohnehin nie geben. Einige können aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden, und es gibt keinen zugelassenen Impfstoff für Kinder unter fünf Jahren.
Welche Vorschläge gibt es bereits?
Bisher gibt es im Wesentlichen drei Ansätze: Ein Entwurf für eine Verpflichtung ab 18 Jahren, die auch Scholz anvisiert, wird derzeit von Parlamentariern aus allen drei Ampelfraktionen vorbereitet. Eine Gruppe um den FDP-Bundestagsabgeordneten Andreas Ullmann konkretisierte einen Vorstoß für einen „mittleren Weg“: Mit einer verpflichtenden fachlichen und persönlichen Beratung für alle ungeimpften Erwachsenen. Und wenn nach einer gewissen Zeit die notwendige Impfquote nicht erreicht wird, ist der Impfnachweis ab dem 50. Lebensjahr zwingend erforderlich. Eine Gruppe um FDP-Vize Wolfgang Kubicki will die Impfpflicht generell verhindern.
Wie könnte eine Impfpflicht konkret aussehen?
Nach Angaben der Abgeordnetengruppe um SPD-Fraktionschef Dirk Wiese soll die Pflicht ab dem 18. Lebensjahr auf ein bis zwei Jahre begrenzt werden und für höchstens drei Impfungen gelten. Wenn eine vierte Auffrischungsimpfung sinnvoll ist, beispielsweise für ältere Menschen oder Menschen mit Vorerkrankungen, wäre diese freiwillig.
Wie soll das durchgesetzt werden?
Auf Maßnahmen wie Zwangshaft will die Abgeordnetengruppe um Wiese verzichten. Stattdessen sollen Impfverweigerer ein Bußgeld zahlen. Nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz betragen die Bußgelder zwischen 5 und 1.000 Euro, „sofern das Gesetz nichts anderes vorsieht“. Sie könnten auch für Zwangsimpfungen höher angesetzt werden. Janosch Dahmen von den Grünen, der Mitinitiator des Gruppenantrags ist, plädiert für einen Betrag im „mittleren dreistelligen Bereich“. Zahlt man dann nicht, kommt laut Wiese ein individuelles Bußgeld in Frage, für das eine Obergrenze von 25.000 Euro gilt.
Wer kontrolliert das?
Die Umsetzung könnte über ein Register erfolgen, das Impfungen für alle Bürger erfasst. Nur: So etwas gibt es noch nicht. Der Aufbau würde Zeit brauchen, auch der Datenschutz müsste geregelt werden. Alternativ könnten Bürger aufgefordert werden, ihre Impfnachweise über Krankenkassen oder Kommunen, die über die Meldedaten verfügen, zu erbringen. Sprechen gesundheitliche Gründe gegen eine Impfung, soll man von der Impfpflicht befreit werden. Die Atteste sollen laut Wiese nicht vom Hausarzt, sondern vom Vertrauensarzt ausgestellt werden.
Was kommt als nächstes?
Für die Orientierungsdebatte gibt es noch keine Gesetzentwürfe, was auch nicht ungewöhnlich ist. Wie zuletzt bei ethischen Fragen wie der Organspende können mehrere Dutzend Abgeordnete jeweils kurz zu Wort kommen. Dafür sind rund drei Stunden bis zum frühen Abend eingeplant. Manchmal enthalten solche Debatten auch berührende Schilderungen des Privatlebens. Die konkrete Formulierung der Anträge soll dann auch mit Hilfe der Ministerien folgen. Eine Expertenanhörung könnte organisiert werden. Laut SPD soll das Verfahren im März abgeschlossen werden. Im Sommer könnte dann die Beweispflicht greifen.
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