Mit dem Angriffskrieg in der Ukraine sind Orte wie Mariupol und Charkiw in unser westliches Bewusstsein getreten. Dass dies erst jetzt der Fall ist, treibt den ukrainischen Autor Serhij Zhadan in den Wahnsinn. Seine Bücher geben Nachhilfe.
Serhiy Zhadan ist derzeit der beliebteste Schriftsteller der Ukraine. Seit einigen Wochen nimmt er in zahlreichen Artikeln und Interviews auch deutsche Leser mit nach Charkiw. Die Stadt, in der der 1974 in der Region Luhansk geborene Zhadan seit den 1990er Jahren die Künstlerszene mit aufgebaut hat.
Seine Botschaft an die Europäer ist laut und deutlich: Dies ist kein lokaler Konflikt, der morgen enden wird. Dies ist ein Krieg zwischen der russischen Armee und dem ukrainischen Volk. Europa hat zu lange zwischen Prinzipien und Bequemlichkeit geschwankt und trägt daher eine gewisse Verantwortung.
Für Zhadan hat der Krieg nicht erst vor ein paar Wochen begonnen; Für ihn war die Annexion der Krim vor acht Jahren ein völkerrechtlicher Angriff. In seinem 2018 erschienenen Roman „Internat“ schickt er seine Hauptfigur, einen politisch unerfahrenen Mittdreißiger, quer durch ein zerstörtes und bedrohtes Land. Das Buch über den in Europa ignorierten Krieg wurde vielfach gelobt und ausgezeichnet. Wer verstehen wolle, was 2014 in der Ukraine passiert sei, müsse Zhadans Bücher lesen, hieß es.
Einfache Leben, große Träume
Wer aber noch weiter ansetzen will, sich ein Bild von der Ukraine vor Zerstörung und Flucht machen will, der sollte Zhadans Roman „Mesopotamien“ lesen. Darin stellt der Chronist von Charkiw die Stadt zwischen den beiden ineinanderfließenden Flüssen Charkiw und Lopan mit Ober- und Unterstadt vor. Genauer gesagt der Teil der Stadt, wo abends kalte Feuchtigkeit aus dem Fluss aufsteigt. Wo Geburtshaus, Kindergarten, Musikschule, Krankenhäuser, Friedhöfe nebeneinander liegen und seine Charaktere, alle lose miteinander verbunden, ihr ganzes Leben auf der Straße zwischen Schönheitssalon, Sportsbar und Sauna verbringen.
Ich sah ihr nach und erinnerte mich plötzlich daran, dass sie die erste Frau war, mit der Marat geschlafen hatte. Und Benja übrigens auch. Und Kostik natürlich. Und Sam ehrlich gesagt auch. Und ich ehrlich gesagt natürlich auch. (Auszug aus „Mesopotamien“)
Zhadan nähert sich seinen Figuren. Mit subtilem Humor enden viele Absätze unerwartet. Seine Figuren sind tote Boxer, besorgte Schuldner, überhebliche junge Casanovas, Bräute und Kellnerinnen. Die Frauen werden von den Männern generell mit Prostituierten verwechselt, oder solchen, die sich dafür sehr gut eignen würden – ein Kritikpunkt des Buches übrigens, das wiederholte Augenrollen als Leser wird irgendwann etwas ermüdend. Auch wenn die Frauen immer wieder als enttäuscht und desillusioniert von der Männerwelt dargestellt werden.
Kennen Sie die Ukraine, nachdem Sie dies gelesen haben? Hast du dieses Land verstanden? Natürlich nicht. Aber Sie kennen ein paar Straßen in Charkiw. Dort der Kiosk auf dem Hügel, hier die Georgier, dort der schöne Blick auf die Stadt. Man erkennt in den Geschichten alte Bekannte wieder, kennt schon ihre Laster, ihre Träume. Du bist ein bisschen näher dran. Wenn Zhadan dann im zweiten Teil des Buches die Geschichten in Poesie auflöst, ist man schon in den Zeilen zu Hause.
Warum schreiben?
Der in Prag geborene Schriftsteller Maxim Biller, der seinerseits seine künstlerische Szene in Berlin gefunden hat, hat kürzlich angesichts des Ukraine-Krieges angekündigt, nicht mehr Schriftsteller werden zu wollen. Er werde aufhören zu schreiben, so Biller in der „Zeit“. Er sieht keinen Sinn mehr darin, die Realität in eine Fiktion zu verwandeln, die die Menschen für einige Momente schlauer und manchmal sogar besser macht. Der Ukrainekrieg, die Bilder aus Kiew und Cherson überzeugten den 61-Jährigen davon, dass seine Arbeit umsonst war.
Serhij Zhadan fand eine andere Antwort auf das, was er in seiner Heimat erlebte – und schrieb sie bereits 2015 in seinem Buch nieder:
Welche Bedeutung hat Poesie? Über das schreiben, was jeder schon weiß. Über Dinge zu sprechen, die uns genommen wurden, unsere Enttäuschungen auszudrücken. Reden auf eine Weise, die Wut und Liebe, Neid, Hass und Mitleid weckt.
Wir können ihm zuhören.