Die knallrote Wetterstation auf dem Gipfel des Hohen Sonnblicks in Österreich ist schon von weitem kaum zu übersehen. Was sich im Schnee daneben abspielt, ist allerdings nicht einmal mit Hilfe eines Mikroskops zu sehen. Fast täglich landen auf einem Quadratmeter Winterweiß viele Milliarden Plastikpartikel, die kleiner sind als 200 Millionstel Millimeter und damit so winzig wie Viren. Zu diesem Schluss kommt ein internationales Team, das eine neue Nachweismethode für den Gehalt an Nanoplastik entwickelt hat. Laut der Studie Die meisten Plastikabfälle werden aus Städten geweht, viele über Hunderte von Kilometern, aus London, Paris und Amsterdam.
Nanoplastik entsteht, wenn Kunststoffe unter dem Einfluss von UV-Licht, Wind und Wetter weiter zerfallen. Es ist sozusagen das Endstadium der Plastikzersetzung, egal ob es mit Zahnbürste, Gartenmöbel oder Fischernetz, Abrieb von Autoreifen oder Fasern von Fleecejacken begann. Da die Nanopartikel ähnlich klein wie Biomoleküle sind, gelten sie als besonders besorgniserregend. Sie können eingeatmet oder geschluckt werden, sich womöglich im ganzen Körper verteilen und laut Laborversuchen sogar Zellmembranen durchdringen – mit unklaren Folgen für Mensch und Natur.
Vor zweieinhalb Jahren wurden in den Schweizer Alpen erhebliche Mengen an Mikroplastik gefunden, also Teilchen mit Durchmessern zwischen einem Tausendstel und fünf Millimetern. Allerdings gilt der Nachweis der kleineren Nanoplastik-Partikel als besonders schwierig und stand lange Zeit nicht im Fokus der Wissenschaft. Die Forscher um Rupert Holzinger von der Universität Utrecht in den Niederlanden hatten ursprünglich andere Pläne, als sie vor einigen Jahren sechs Wochen lang jeden Tag neben der Wetterstation Schnee in kleine Flaschen schaufelten. „Eigentlich wollten wir die Proben mit einem neuen Messverfahren auf Feinstaub untersuchen. Zunächst war das Nanoplastik nur ein Beifang“, sagt Holzinger.
Doch die Forscher ließen das Thema nicht los und entwickelten eine neue Analysemethode. Dazu tauten sie die Sonnblick-Schneeproben im Labor auf, filterten alle Partikel kleiner als 200 Nanometer heraus, erhitzten diese Mischung auf bis zu 300 Grad Celsius und analysierten den Dampf im Massenspektrometer. Sie suchten in den Messsignalen nach charakteristischen Mustern verschiedener Kunststoffarten – und wurden fündig. Danach waren die Kunststoffe PET (Polyethylenterephthalat) und PP (Polypropylen) im Schnee am weitesten verbreitet. Reifenabrieb hingegen, der den Löwenanteil des Mikroplastiks ausmacht, wurde kaum gefunden. Eine Erklärung dafür hat das Team noch nicht abgegeben.
„Außerdem haben wir die Gesamtmasse der Nanoplastik-Mischungen in einem Milliliter geschmolzenem Schnee gemessen und daraus Ablagerungsraten abgeleitet“, sagt Holzinger. Die eingetragenen Plastikmengen schwankten stark, nahmen aber auch dann zu, wenn es nicht geschneit hatte. Offenbar rieselten die Plastikkrümel zu Boden, selbst wenn die Sonne schien. Grob geschätzt fiel in einer Woche fast ein Milligramm Nanoplastik auf einen Quadratmeter Schnee, was mindestens 200 Milliarden Partikeln entspricht. Natürlich klinge diese Zahl viel dramatischer, räumt der Forscher ein. „Wie es zu bewerten ist, hängt letztlich davon ab, ob es tatsächlich Schaden anrichtet. Und das wissen wir eben nicht.“
Nordpol, Südpol, Berggipfel: Die Plastikpartikel haben sich über die ganze Welt verbreitet
Deutlicher sehen die Forscher hingegen die Herkunft der Partikel. Weil sich die winzigen Teilchen wie ein Gas verhalten, das mit der Luft strömt, konnte das Team mit Hilfe von Wettermodellen die Bahnen sogenannter Luftpakete verfolgen. „Wir haben sozusagen nachgerechnet: Wo und wie lange war ein Luftpaket, das letztendlich auf dem Sonnenblick landet, zuvor mit Oberflächen in Europa in Kontakt“, sagt Dominik Brunner vom Forschungsinstitut EMPA in der Schweiz, der für die Simulationen verantwortlich war. Je länger das entsprechende Luftpaket demnach zuvor über urbanen Gebieten gehangen hatte, desto mehr Nanoplastik wurde auf dem Sonnblick gefunden. Einige könnten sogar vom Atlantik in die Alpen geweht worden sein.
Ulrike Braun vom Umweltbundesamt findet es gut, dass die Luft als Quelle für kleine Plastikpartikel mehr Beachtung findet. „Lange Zeit hatte niemand den Flugweg wirklich auf dem Radar, weil klar war, dass dort hauptsächlich Nanopartikel unterwegs sind. Und die konnte man bisher nicht gut kartieren“, sagt sie. Das neue Verfahren ist solide und die ermittelten Mengen plausibel. Fraglich ist nur, ob sich die Methode auch für Routinemessungen eignet. „Wir brauchen einfach nicht mehr die eine spektakuläre Messung, die zeigt, dass sehr viele Plastikpartikel in der Luft sind. Wir wissen bereits, dass sie überall sind, am Nordpol, am Südpol und natürlich auch in den Alpen. Was wir 100 Messungen an einem Ort benötigen, zuverlässige Überwachung“, sagt Braun. Allerdings steht so etwas beim Thema Mikroplastik noch aus, auch weil es keine Standards für die Probenahme gibt.
„Wir stehen noch ganz am Anfang“, gibt Holzinger zu. Obwohl die neue Analysemethode nur maximal zwei Stunden dauert, ist sie für Routinemessungen noch zu zeitaufwändig. Außerdem gab es keine Referenzpartikel, mit denen die Messgeräte kalibriert werden konnten. „Wir müssen die Methoden jetzt robuster, genauer und auch anwenderfreundlicher machen“, betont der Forscher. Gelingt dies, lassen sich womöglich bald weitere offene Fragen beantworten, etwa wie viele Plastikpartikel woanders in der Luft hängen. Denn eines ist sicher: Nicht nur in den Alpen weht eine Plastikbrise.