Verschwörungsmythen richten großen Schaden an, etablierte Medien vertiefen ihn durch mangelnden Recherchewillen. Fallanalyse eines Medienausfalls (Teil 2 und Fazit)
der Spiegel veröffentlicht 2020 sechs Artikel unter Beteiligung von Georg Fahrion (zur Historie siehe Teil 1: Coronapandemie: Als die Medien in den Lockdown gingen):
Artikel 1: 24.01.2020 „Krankheitsexperten rätseln über Coronavirus – den unheimlichen Erreger 2019-nCoV“, Online- und Zeitschriftenartikel
Artikel 2: 10.03.2020 „Ursprünge der Corona-Epidemie – Peking erfindet Geschichte neu“, Online-Artikel
Artikel 3: 17.04.2020 „Ursprünge des Coronavirus – Labore als Gerüchteküche“, Online-Artikel
Artikel 4: 08.05.2020 „Protokoll einer Vertuschung – Was in Wuhan passiert ist“, redaktionell
Artikel 5: 01.12.2020 „Wuhan-Propaganda – Chinas neuste Corona-Legende“, Online-Artikel
Artikel 6: 15.01.2021 „WHO-Team untersucht erstmals Ursachen der Pandemie in Wuhan – In dieser Geschichte gibt es ein dunkles Loch“, Online-Artikel
Die zentralen Thesen und Themen dieser Beiträge sind: A1 beschäftigt sich intensiv mit der Wildtiermarkt-These und den ersten bekannten Informationen über das neue Virus. Auch die Herkunft aus Fledermäusen erweist sich als sehr wahrscheinlich. A2 sagt, Peking benutze Propaganda, um Chinas Rolle bei der Bekämpfung der Pandemie zu beschönigen und die Schuld abzutun.
In A3 wird die Möglichkeit, dass ein Labor die Quelle des Virus sein könnte, als höchst unglaubwürdig bezeichnet. Schon der Titel des Artikels macht die Ablehnung dieser Möglichkeit deutlich: „Labore als Gerüchteküchen“.
A4 will die ersten Wochen der Pandemie rückblickend rekonstruieren. Die Wildtiermarktthese wird weiterhin als realistisch eingeschätzt (obwohl die Daten sie nicht wirklich stützen, siehe oben). Andererseits werden chinesische Behörden als Verschleierer und Komplizen bei der globalen Verbreitung suggeriert und darauf hingewiesen, dass China ein „Propagandastaat“ sei, in dem die Pflege des eigenen Images Vorrang vor globaler Verantwortung habe.
A5 betont auch, dass China ein Propagandastaat ist, der alternative Theorien über die Herkunft verbreitet, um von der eigenen „Schuld“ abzulenken und dadurch die WHO an ihrer Arbeit zu hindern. A6 dreht sich um die Untersuchung der WHO vor Ort in Wuhan und zeigt einen Konflikt innerhalb des chinesischen Staates zwischen Behörden und der Zentralregierung. Dr. Shi Zhengli wird in dem Artikel (noch) als glaubhaft dargestellt.
Glaubwürdigkeits- und Diskreditierungsrahmen
Auffällig ist, dass die Spiegell versucht weiterhin, an alten Narrativen festzuhalten und lehnt entgegen der wissenschaftlichen Debatte eine frühere weltweite Ausbreitung von Sars-Co-V2 als unwahrscheinlich ab. Auf diese Weise wird die eigene Ansicht, dass Zoonose das wahrscheinlichere ursprüngliche Szenario darstellt, konstant gehalten.
Das dominante Framing, das inhaltsanalytisch ermittelt wurde, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Spiegel arbeitet mit starken Glaubwürdigkeits- und Unplausibilitätsrahmen in Bezug auf das Thema, zB indem er Beweise für die Laborarbeit lediglich als „Medienberichte“ kennzeichnet, während die wissenschaftlichen Beweise dafür ignoriert oder nicht als relevante Veröffentlichungen gerahmt werden.
Der chinesische Fledermausforscher des WIV, Shi Zhengli, wurde zu Beginn des Berichts als „internationale Koryphäe“ der Fledermausforschung bezeichnet. Und bestimmte Journalisten wurden als glaubwürdig dargestellt, indem sie als „gut vernetzt“ dargestellt wurden – wie in Artikel Nr. 3.
Darin wird die Laborthese auch deshalb als unglaubwürdig hingestellt, weil Namen wie Donald Trump oder Roland Wiesendanger, die ein kontroverses Paper zum Thema veröffentlicht haben (siehe oben), dafür eintreten. Bereits in der ersten Erläuterung der Laborthese wird deutlich gemacht, dass „direkte Beweise“ fehlten; eine Behauptung, die mit der Zoonose-These gar nicht erhoben wurde. Im Jahr 2020 wurden Fragen zu einem möglichen Laborleck durchweg als unplausibel formuliert.
Die Ansicht wird geändert
Dies änderte sich schlagartig am 2. Juli 2021, nachdem US-Präsident Joe Biden eine neue Untersuchung durch die CIA vorangetrieben hatte und plötzlich die Laborthese als ernsthafte Möglichkeit in den Raum geschoben wurde – etwas, das in Artikel 4 vehement abgelehnt wurde, als Donald Trump das brachte Geheimdienste ins Spiel mit dieser These.
Wir haben das Spiegel nicht gefragt, warum sie im Juli 2021 entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis als machtkritisches Medium einfach eine solche Perspektive eingenommen haben. Uns interessiert vielmehr, wie es ist Spiegel schafft es, diese neue Perspektive einzunehmen, ohne sich einerseits als machtgehorsam und andererseits als „Verschwörungstheoretiker“ abzustempeln. Denn im Jahr zuvor wurden alle, die Zoonose nicht als die einzig mögliche Erklärung betrachteten, als solche abgestempelt.
Durch die Framing-Analyse lässt sich feststellen, welchen Deutungsrahmen die Textautoren dem Dargestellten geben – also mit welchen Formulierungen und sonstigen Mitteln welche Färbung des Sachverhalts erreicht wird.1 Das klingt bewusster, als es oft ist, denn man kann‘ t-Rahmen. Sprache und Bilder, alles Zeichen, sind vorgegeben und rahmen je nach Auswahl eine Tatsache ein: „Freiheitskampf“ klingt legitimer als „Terror“, die Mittel sind oft die gleichen. Partikel wie „paradox“ oder „wahrscheinlich“ repräsentieren Distanzmarken.
Die Modi kennzeichnen etwas als Tatsache oder werten eine Tatsache als Möglichkeit ab – etwa beim Schreiben von Sachlich im Indikativ oder Distanzieren im Konjunktiv.2 Es empfiehlt sich daher, nicht nur das WAS inhaltsanalytisch zu bestimmen, sondern auch das WIE des die Präsentation.
Man kann aus den anerkannten Deutungsrahmen nicht automatisch auf Absichten schließen, vieles geschieht unbewusst und basiert auf althergebrachten Rahmen: etwa dass die US-Regierung glaubwürdiger erscheint als etwa die russische oder chinesische.
Es gibt aber auch absichtlich gesetzte Rahmen, die von teuren Spin-Doktoren erdacht wurden. Strategisches Framing erfordert ein gewisses Geschick und ein hohes Maß an Bewusstsein.3 Frame-Analysen sollten zum täglichen Handwerkszeug im Journalismus gehören, um Pressemitteilungen und andere Outflows strategischer Kommunikation besser bewerten zu können.
Am 02.07.2021 hieß es plötzlich: „Geheimdienste und Wissenschaftler erforschen den Ursprung des Coronavirus – das Mysterium Wuhan“. Der lange Leitartikel behauptet, die gesamte Pandemie bis zum Sommer 2021 zu verfolgen. Die Laborthese gilt plötzlich als ebenso (un)wahrscheinlich wie die Zoonose.
Die Titelgeschichte vom 2. Juli wählt eine Entwicklung als Hauptrahmen und präsentiert sich als eine Art großer Entwicklungsbericht, der die gesamte Geschichte der einzelnen Stränge möglicher Faktoren zur Beantwortung der Ursprungsfrage aufzeigt. der Spiegel Bringt also jetzt die Tatsachen, die im Jahr 2020 bekannt gewesen sein könnten – siehe Abriss der wissenschaftlichen Debatte in Teil 1 – aber jetzt werden sie als glaubwürdige Nachrichten eingerahmt.
Hauptinhalte sind die frühe Entdeckung der Viren nach dem Tod von Bergleuten in einer Höhle in Yunnan im Jahr 2012, die direkt damit zusammenhängende Sequenzierung von RaTG13 (ein Sars-Virus, das eine 96,1-prozentige Ähnlichkeit mit Sars-CoV-2 aufweist) und das daraus resultierende bzw vermuteter Zusammenhang zwischen dieser Sequenzierung im WIV und der Laborhypothese.
Es besteht jedoch kein automatischer Zusammenhang zwischen dem Beginn der Forschung von Dr. Zhengli zu Fledermausviren, ihrem Labor in Wuhan und einem Laborleck. Dennoch war es ein Versäumnis der Medien, diesem Hinweis nicht zu folgen – ebenso wie es versäumt hat, das internationale Kooperationsengagement dieses Labors darzustellen und die Interessen des hier direkt beteiligten Peter Daszak deutlich zu machen; spätestens als dieser Teilnehmer der WHO-Delegation in China war.
Das Framing von Wissenschaftlern als nicht vertrauenswürdig scheint anderen Regeln zu folgen Spiegel. Dies basiert weniger auf direkten Hinweisen auf frühere Ausfälle oder Fehler als vielmehr auf Indizienbeweisen, Hörensagen und schlechter Vernetzung.
Zum Spiegel gelingt es, sich selbst als allwissenden Schauspieler zu inszenieren, der immer weiß, was los ist, und den Lesern sagen kann, was los ist.
Spieglein, Spieglein an der Wand – wer ist der Klügste im ganzen Land?
Der Titel von Artikel 7 zum Thema „Das Geheimnis von Wuhan“ und die ersten paar Zeilen lassen bereits erkennen, dass der Ursprung des Virus noch unklar ist. Der Stil, den die Spiegel Der weiß das und hat dies nun für sein Publikum geklärt, behauptet der Artikel.
Und das wird unter anderem dadurch erreicht, dass die Weigerung, die Laborthese aus dem Vorjahr zu diskutieren, auf den Träger der Botschaft, nämlich Ex-Präsident Donald Trump, projiziert wird, der als dubios und nicht glaubwürdig gilt, während sein Nachfolger Biden verkörpert offenbar das Gegenteil. Ein Teil der damaligen Skepsis wird auch auf das Wissenschaftsinteresse projiziert, als gäbe es kein Interesse und keine Versäumnisse seitens der Medien.
Die Gefahren der Gain-of-Function-Forschung werden auch der Verantwortungslosigkeit der Chinesen zugeschrieben; so werden auch hier andere als unglaubwürdig umrahmt, was die überbringer der nachricht – die Spiegel – wieder rehabilitiert und wieder auf die Ebene der Glaubwürdigkeit gebracht. Man wagt sogar zu schreiben, um sich von der eigenen Rolle bei der Einengung der Debatte abzulenken: „Aber differenzierte wissenschaftliche Diskussionen sind in der Öffentlichkeit kaum möglich.“
Personalisierungsrahmen müssen auch dazu dienen, von der eigenen Verantwortung für die Beschneidung der Debatte abzulenken; Peter Daszak (siehe oben) wird prominent als Manipulator dargestellt. Wie geht es ihm? Shi Zhengli, der inzwischen auch als dubios, interessengeleitet und nicht glaubwürdig abgestempelt wird; wie alles, was aus China kommt – eine längere Diskurstradition erschöpfend.
Entscheidend ist jedoch der Rahmen des gesamten Artikels, eine wissenschaftliche Debatte so zu entwickeln, als wäre sie neu, obwohl sie sich jetzt auf Quellen aus dem Jahr 2012 bis zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens des neuartigen Coronavirus bezieht. Das alles dient dazu, das Selbstverständnis konstant zu halten: Die Spiegel klärt das für dich. Er weiß, hat das einzige Wissen um die Wahrheit, er bietet die ultimative Orientierung – die Spiegel war, ist und wird immer glaubwürdig sein.
Welche Wendung können wir nach einer möglichen weiteren Veränderung der politischen Gesamtlage für die Zukunft erhoffen bzw. womit müssen wir rechnen?