Frankfurt (dpa) – Auf den ersten 20 Seiten des Buches findet sich eine Schlüsselszene in Yasmina Rezas neuem Roman «Serge». Nach der Beerdigung ihrer Mutter setzten sich die Geschwister Popper mit ihren Verwandten und ein paar Freunden in einem Café zusammen.
Enkelin Josephine macht sich darüber lustig, dass ihre Großmutter sich als Jüdin einäschern ließ, „nach allem, was ihre Familie durchgemacht hat“. Und sie kündigt an, „dieses Jahr nach Osvitz zu gehen“.
Absurde Übertreibungen
Josephines Vater, Romantitelfigur Serge, tobt: «Osvitz!! Wie die französischen Goys! Erst richtig aussprechen lernen. Auschwitz! Ausschschwitz!» Das gibt den Ton an in dieser immer wieder absurd aufgebauschten Familiengeschichte, die sich neben den unterschiedlichen Befindlichkeiten und Problemen auch damit auseinandersetzt, wie die zweite und dritte Generation mit der von der Shoah geprägten Familiengeschichte umgeht, um die es bei der Familie Popper geht ebenso schweigsam war die jüdische Identität: keine Bar Mizwa für die Söhne, das letzte Familientreffen mit der Mutter zur Dreikönigstorte.
Man könne nicht behaupten, seinen Eltern viele Fragen gestellt zu haben, sagt Serge während des Familienausflugs nach Auschwitz, zu dem Josephine ihr Vater Serge, Onkel und Ich-Erzähler Jean und Tante Nana begleiteten. Sie wussten, dass die Familie der Mutter aus Ungarn stammte und fast alle Mitglieder in Auschwitz ermordet wurden. Waren es die Eltern, die das Schweigen auferlegten, oder warteten sie auf Fragen?
Scharfe Beobachtungen
Auch im Umgang mit dem ehemaligen Vernichtungslager, das längst zur Touristenattraktion geworden ist und in dem die Menschen jetzt in kurzen Hosen und bunten T-Shirts herumlaufen, unterscheiden sich die Familienmitglieder: Nana ist verärgert und schockiert, als sie die Gaskammer sieht, Serge schwitzt in seinem guten Anzug, gibt sich aber hin. Betont unbeteiligt fotografiert Josephine weiter, als würde die Kamera helfen, Distanz zum Ort und seiner Geschichte zu schaffen.
Jean erinnert sich an den Grabbesuch der unbekannten ungarischen Verwandten, von denen er und seine Geschwister noch nie gehört hatten: «Aber das war unsere Familie, sie starben, weil sie Juden waren, sie hatten das Schicksal dieses Volkes miterlebt, dessen Erbe wir trugen , und in einer Welt, die vom Wort „Gedenken“ berauscht ist, schien es unehrenhaft, nichts damit zu tun zu haben.“
Mal überspitzt und voller Komik, mal nachdenklich und messerscharf beobachtend sind Rezas Szenen einer Familie zwischen Entfremdung, Stille und der Suche nach einem verbindenden Element. Ob Identität oder Umgang mit Alter und Krankheit, der eigenen Endlichkeit und der Suche nach dem, was bleibt – in diesem Buch zeigt Reza, dass sie die schrillen wie auch die leisen Töne beherrscht.
Yasmina Reza: Serge, Hanser Verlag, 206 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-446-27292-7
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