Dass Putin mit dem Angriff auf die Ukraine auch das demokratische Prinzip angegriffen hat und wir damit vor einer neuen Ära stehen, ist in der Debatte alltäglich geworden. Doch welche Auswirkungen hat der russische Angriff tatsächlich auf das liberale Ordnungsmodell? Wie sehen Menschen in verschiedenen Regionen der Welt Russlands Krieg und seine möglichen Folgen?
Diese Fragen diskutierten mehrere Experten aus Deutschland, der Ukraine, China und Indien auf einem Panel des Berliner Exzellenzclusters „Contestations of the Liberal Script (Scripts)“.
„Als Russland die liberale Kultur aus seinem Einflussbereich verdrängen wollte, hat Putin genau das Gegenteil erreicht“, sagt FU-Politologe Thomas Risse. Gleiches gilt für die Sehnsucht nach Respekt, die Russland, seit es nun in der Ukraine die Taktiken von Grosny und Aleppo versucht, sicherlich längst verloren hat.
Länder wie Moldawien und Georgien orientieren sich nun stärker an Europa, der „Westen“ ist geeint wie nie zuvor. Aber die Frage ist, ob das gegenwärtige Bündnis über den Krieg hinaus Bestand haben wird.
„Im Moment ist der Angriff Russlands ein Weckruf zur Verteidigung der liberalen Ordnung“, sagt Risse. Allerdings muss man bedenken, dass das „liberale Drehbuch“ nicht nur von außen, sondern auch von innen herausgefordert wird. Ein Orban bleibt illiberal, auch wenn er sich jetzt Europa nähert.
Das Alptraum-Szenario
Risses Schreckensszenario ist, dass Marine Le Pen oder der Rechtspopulist Éric Zemmour die nächste Präsidentschaftswahl in Frankreich gewinnen und Donald Trump wieder ins Weiße Haus einzieht. Die Politikwissenschaftlerin Tanja Börzel, Leiterin des Clusters Drehbücher, stimmt zu, dass die EU endlich zusammengefunden hat, aber es ist nicht sicher, ob dies so bleiben wird.
Demokraten im Westen haben lange Zeit nur die inneren Herausforderungen der liberalen Demokratie ins Visier genommen, nun sind aber auch die äußeren stärker ins Bewusstsein gerückt. „Aber es gibt eine Verbindung zwischen beidem“, sagt Börzel. Es ist kein Geheimnis, dass die Neue Rechte, von Trump über Salvini bis Le Pen, ideologische Interessen mit Putin teilt.
Eindruck der Erniedrigung
Und wie sieht es mit der Unterstützung für Putin in der russischen Gesellschaft aus? „Die Geschichte, dass Russland das eigentliche Opfer ist, ist hier durchaus verbreitet“, sagt die Soziologin und Russland-Expertin Katharina Blum. Putins Anti-NATO-Erzählung wird von vielen geteilt. Dahinter stand ein stark kultiviertes Gefühl, vom Westen gedemütigt worden zu sein und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mehr verloren als gewonnen zu haben. „Das hat sich langsam entwickelt“, sagt Blum. Es geht nicht nur um die Nato, sondern auch um den Eindruck, den Russen sei die westliche Kultur sozusagen aufgezwungen worden.
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Bis 2012 glaubte Russland noch, eine starke und anerkannte Macht innerhalb der liberalen Weltordnung sein zu können. Nach Putins Rückkehr in die Präsidentschaft hat man sich dann von dieser Denkweise verabschiedet und strebt nun eine Weltordnung an, in der verschiedene Systeme konkurrieren.
China ist gespalten
Und wie wird der Krieg in China aufgenommen, das wie Russland in Einflusssphären denkt und dem liberal-demokratischen Modell ein autoritäres entgegensetzt? „Es gibt eine Diskrepanz zwischen der diskursiven und der pragmatischen Ebene“, erklärt der chinesische Politikwissenschaftler Lunting Wu, der im Cluster „Scripts“ arbeitet. Der Staat vertritt zwar die russische Sichtweise, hat aber kein Interesse daran, in den Konflikt hineingezogen und selbst Ziel von Sanktionen zu werden.
Auch China fühlt sich durch die neu entstehende transatlantische Einigung gestört und hat stark in die Ukraine investiert. Man denke in strategischen Einflusssphären, beharre aber auch stark auf territorialer Integrität in China.
Der Vergleich der Ukraine mit Taiwan in China werde selten gezogen, sagte Wu. China war eines der ersten Länder, das die ukrainische Unabhängigkeit nach 1990 anerkannte, betrachtete Taiwan jedoch immer als sein Eigentum. Auf der Insel hingegen ist man begeistert davon, wie geschickt sich die Ukraine verteidigt, und versucht nun, daraus zu lernen.
Werte und Ökonomie
Die indische Politikprofessorin Ummu Salma Bava stimmt zu, dass es zu einfach ist, die aktuellen geopolitischen Konflikte als Konflikte zwischen autokratischen und demokratischen Systemen zu beschreiben. „Das ist nicht nur eine Wertefrage, sondern auch eine der Ökonomie – was sich auch daran zeigt, dass viele Europäer den Energiesektor von Sanktionen ausnehmen wollen.“
Indien unterhält intensive Wirtschaftsbeziehungen zu Russland, die das Land nicht gefährden will, aber keinesfalls das Bedürfnis verspürt, einem einheitlichen Block beizutreten. „Jedes Land sieht seine eigenen Interessen.“
Und wie denken die Menschen in der kriegszerrütteten Ukraine über die vermeintlich neuen Blockfronten? Die ukrainische Politikwissenschaftlerin Tatiana Zhurzhenko, die im Cluster Scripts arbeitet, erklärt, dass der Wille zur EU- und Nato-Zugehörigkeit so weit verbreitet ist wie nie zuvor. Gleichzeitig sind viele bitter enttäuscht und fühlen sich nicht wirklich willkommen.
Man fragt sich auch, ob der Machthaber im Kreml für seine Verbrechen bestraft wird. „Sicher ist, dass es wirklichen Frieden nur durch einen Regimewechsel geben wird.“